Santa Monica – Glendale

Es ist Donnerstag und unser erster Morgen in Los Angeles. Wir sind beide früh wach und beschliessen, joggen zu gehen. Von unserer Unterkunft sind es nur ein paar hundert Meter zur Ocean Avenue. Von dort sieht man aus etwa 100 m Höhe hinunter auf den Strand von Santa Monica. Die Ocean Avenue kommt mir riesig vor. Neben der vierspurigen Fahrbahn verläuft eine gemergelte Laufstrecke für Jogger. Dann folgt ein breiter, asphaltierter Streifen für Radfahrer und Spaziergänger und schliesslich eine üppige Rasenfläche mit Palmen und Büschen. Wir sind hier ganz offensichtlich in Amerika. Alles ist hier sehr sehr gross und weitläufig.

Strandlaeufer

Meine Tochter hat beim Joggen etwas mehr Ausdauer als ich. Während sie ihre Runde noch etwas weiterdreht setze ich mich an den Strand und warte, bis sie wieder zurückkommt. Die Wellen brechen herein und gehen wieder zurück, brechen herein und gehen wieder zurück und versetzen mich in eine leichte Trance. Eine Gruppe von Vögeln sucht in den Wellen ihr Futter. Sobald eine Welle wieder ins Meer zurückgleitet rennen die Vögel dem Wasser hinterher und stochern mit ihren langen Schnäbeln im Sand, der vom Wasser gerade freigegeben wurde. Dort muss es für sie irgend etwas Fressbares geben. Das ist eigentlich nichts Besonderes. Mit der Zeit fällt mir aber beim Zuschauen auf, wie einfach das Vorgehen der Vögel ist: Sie warten, laufen dem Wasser hinterher, stochern im Sand, fressen, was sie gefunden haben, und indem sie auf die nächste Welle warten beginnt das Spiel von vorne.

Halb in Trance und halb beim Zuschauen schweifen meine Gedanken im Leeren dahin. Irgendeinmal steigt eine Idee in mir auf. Ich erinnere mich an etwas hanebüchene Situationen mit Wirtschaftsfachkräften und Strategieberatern, in denen die Fragen nach Ausrichtung und Erfolg ziemlich simpel und mechanistisch abgearbeitet wurden. Der Schalk packt mich, und ich frage mich, wie diese Wirtschaftssachverständigen wohl vorgehen würden, wenn die Vögel da vor mir ihre Kunden wären. Wahrscheinlich würden sie das sagen, was man mittlerweile hinlänglich von ihnen kennt: „Geschätzte Vögel, wie haben die professionelle Ausführung Ihrer unternehmerischen Tätigkeiten mit grossem Interesse verfolgt. Unter Wahrnehmung Ihrer bedeutenden Verantwortung werden Sie für die erfolgreiche Gestaltung Ihrer Zukunft zwei entscheidende Fragen zu beantworten haben, nämlich erstens, wo sie in zwei bzw. in fünf Jahren sein wollen, und zweitens, was Sie tun werden, wenn sie aus irgendwelchen Gründen ihr bestehendes Geschäftsmodell werden ändern müssen?“ Und wenn die Vögel hier dann so bescheuert wären, wie es manche Kunden dieser Strategieberater sind, und sich auf diesen Aberwitz einlassen würden, dann würden sie am Ende des Beratungsmandates über eine Strategie verfügen, die da lautet: „In fünf Jahren wollen wir die erfolgreichsten Strandläufer in diesem Strandabschnitt hier sein. Dank der schlanken und präzisen Gestaltung unserer Prozesse werden wir in der Lage sein, weitere Strandabschnitte zu übernehmen und Marktführer im Bereich Auffinden und Fressen von Futter in zurückgehenden Wellen des Pazifik zu sein. Sollte unser Geschäftsmodell nicht mehr funktionieren, dann wären wir immer noch in der Lage, unser Wissen und unsere Erfahrung anderen Gattungen in verwandten Gebieten zur Verfügung zu stellen, zum Beispiel Krokodilen, Nilpferden oder der US Navy“. Und damit hätten sich die Vögel - wie so viele Wirtschaftsverantwortliche übrigens auch - für teures Geld nicht nur eine ganz und gar unsinnige, nutzlose und impraktikable Strategie gegeben. Sie hätten sich auch auf wirklich seltsame Szenarien vorbereitet, zum Beispiel auf die Situation, wo das Meer plötzlich aufhören würde, in Wellen über den Strand zu streichen.
Meine Tochter hat ihre Einzelrunde beendet. Gemeinsam joggen wir zusammen wieder zurück zu unserem Airbnb, und während wir uns unterhalten komme ich wieder auf andere Gedanken.

Santa Monica 3rd Street

Gegen neun Uhr sind wir bereit für die Erkundung von Santa Monica bei Tageslicht. Als Erstes suchen uns einen Ort, wo wir ein richtiges amerikanisches Frühstück bekommen. Später planen wir den Tag dann so, dass wir zuerst mit unserem Auto etwas in der Gegend herumkurven und später im Verlauf des Nachmittags dann zu dem Motorradhändler fahren, bei dem mein neues altes Motorrad bereitstehen sollte.

Unser erstes Ziel ist Malibu. Malibu, das klingt so besonders, und es erinnert an Filme und Fernsehserien, die dort spielen, oder in denen der Name Malibu immer wieder verheissungsvoll erwähnt wird. Im Film wie auch in der Wirklichkeit sollen in Malibu nämlich die Schönen und Reichen wohnen. Deren Häuser wollen wir uns einmal anschauen.
Um nach Malibu zu gelangen fährt man von Santa Monica aus einfach dem Strand entlang in Richtung Nordwesten und kommt dann nach einer Weile in einen sehr lang gezogenen Ort. Bei uns würde man die Siedlungsform von Malibu als Strassendorf bezeichnen. Man kann gar nicht so recht sagen, wo Malibu wirklich anfängt und wo es aufhört. Insofern gibt es städtebaulich gesehen keinen Unterschied zwischen Malibu und dem Dorf Neuenhof im Kanton Aargau. Würde man von Malibu ein Geländeprofil erstellen würde, dann käme da im Westen zuerst zuerst sehr viel Meer, dann ein schmaler Strand mit einer einzigen Häuserzeile, dann eine ziemlich breite Strasse und dann auf der Ostseite des Geländeprofils ein steiler Hang mit sehr repräsentablen Villen. Letztlich sind es diese protzigen Villen am Hang, die uns anzeigen, dass wir wahrscheinlich in Malibu angekommen sind. So einfach ist das in Neuenhof im Aargau nicht. Weil es da keine solchen Villen gibt muss man immer noch selber merken, wo man gerade ist. Hier in Malibu gibt es auf jeden Fall einiges zu sehen und auch einiges, das sich in jeder Hinsicht nur etwas ungläubig bestaunen lässt.

Lagune Malibu

Decker Canyon

Durch den Latigo Canyon durchqueren wir die Santa Monica Mountains . Der erste Teil der Strecke entpuppt sich als veritabler Insidertip: Die Decker Canyon Road, eine landschaftlich sehr reizvolle und fahrerisch richtig schön anspruchsvolle, kurvige, abgelegene Bergstrasse. Über die Decker Canyon Road und den Ventura Freeway kommen wir in die Ebene, in der Hollywood liegt. Am Nordostausgang dieser Ebene liegt Glendale, der Ort, wo wir hinwollen, um meine neue BMW abzuholen.

Genauer gesagt wollen wir zu Proitalia in Glendale. Wie der Name schon sagt ist Proitalia eigentlich Vertragshändler für italienische Motorräder wie Ducati, Aprilia und Motoguzzi. Die Tatsache, dass ich ausgerechnet bei Proitalia eine BMW kaufe, hat spezielle Gründe. Der Vorbesitzer der BMW war ein Freund von Bill Nation, dem Besitzer von Proitalia. Der Vorbesitzer war seines Zeichens Motorradtrainer bei der Los Angeles Police. Nach seiner Pensionierung ist er zweimal mit der BMW nach Alaska gefahren. Die Maschine weiss also bestens, wie eine Fahrt nach Alaska funktioniert und kennt auch den Weg dorthin. Der Vorbesitzer der BMW ist dann vor kurzem plötzlich verstorben. Bill Nation, der Chef von Proitalia, hat es als Freundschaftsdienst übernommen, im Auftrag der Witwe die BMW zu verkaufen. Das ist das Motorrad, das ich von der Schweiz aus ausgewählt und gekauft habe, und das ich jetzt übernehmen möchte.
Im Rahmen der Verhandlungen von der Schweiz aus hatte ich Bill Nation gebeten, dass Proitalia die BMW für mich fahrbereit macht, die Registrierung bei der kalifornischen Motorfahrzeugbehörde erledigt und auch die notwendigen Versicherungen für mich abschliesst. Wenn ich das Fahrzeug heute übernehme  werden wir gemeinsam diese Punkte abarbeiten müssen.

Die Jungs bei Proitalia sind sehr nett. Weil Bill Nation gerade an einer Ducati-Händlerveranstaltung in Südfrankreich teilnimmt, werde ich von Rick Nelson bedient. Rick ist vielleicht fünf bis zehn Jahre jünger als ich, schlank, gross und schaut mit einem breiten Lächeln durch eine sehr grosse Brille unter den langen Haaren seines Mittelscheitels hervor. Rick steuert mich als Erstes durch den ganzen Papierkrieg des Kaufvertrags und der Registrierung. Die Zulassungspapiere sind da und das Nummernschild ist bereits montiert. Als Nächstes gehen wir die Ausrüstung des Motorrades durch, wie sie im Angebot beschrieben ist. Es ist alles wie vereinbart vorhanden. Lediglich die Seitenkoffer fehlen. Rick macht sich auf die Suche und findet sie in einem Lager, wo sie deponiert waren, damit die BMW nicht so viel Platz wegnimmt. Jetzt müssen die Seitenkoffer natürlich noch montiert werden, und da wäre es von Vorteil, zu wissen, wie das geht. Rick kennt sich mit Ducati und Motoguzzi aus, ich mit meiner Honda zu Hause, aber wie werden die Seitenkoffer bei einer BMW montiert? Es dauert eine ganze Weile, bis auch das sauber erledigt ist. Dann fehlt eigentlich nur noch die Versicherung. Auf meine entsprechende Frage drückt mir Rick wie zum Abschied die Visitenkarte seines Brokers in die Hand und rät mir, mich da zu melden. Der Broker würde das mit Sicherheit bestens für mich erledigen. Genau das hatte ich insgeheim befürchtet. Wenn ein Ausländer in den USA ein Fahrzeug kauft und das dann versichern will, dann kann das äusserst trickreich sein. Soviel hatte ich aus der Ferne schon herausgefunden und darum auch Proitalia gebeten, das für mich zu erledigen. Im Moment weiss ich nicht, ob die Jungs von Proitalia das auch herausgefunden haben und mir die Sache mit der Versicherung wie eine heisse Kartoffel weitergeben wollen, oder ob sie von den Schwierigkeiten, die mit der Versicherung verbunden sind, einfach keine Ahnung haben und darum so wie immer vorgehen wollen. Es scheint mir deshalb das Beste zu sein, wenn ich mich zuerst einmal einfach etwas blöd stelle. Darum frage Rick, ob nicht er für mich bei dem Broker anrufen könne, da mein Englisch ja auch wieder nicht so gut sei. Für Rick scheint das kein Problem zu sein. Er macht das gerne. Dann kommt es aber genau so, wie ich bereits befürchtet habe. Der Broker von Proitalia kann nämlich nur dann eine Versicherung abschliessen, wenn der Versicherungsnehmer über einen US-Führerschein verfügt. Daraufhin ruft Rick freundlicherweise noch einen zweiten und einen dritten Broker an, aber er erhält überall dieselbe Antwort: Ohne US-Führerschein gibt es keine Versicherung. Schliesslich kommt Rick noch auf eine neue Idee. Er ruft einen Freund an, der auch Motorradhändler ist, der aber ausserdem auch noch ein Schweizer ist, der seit 30 Jahren hier in Kalifornien lebt. Der müsste meine Situation ja eigentlich kennen und kann uns vielleicht weiterhelfen. Der Freund von Rick ist auch sehr nett. Er rät mir, möglichst rasch den US-Führerschein zu machen. Das sei überhaupt nicht schwer und auch ganz kurzfristig in ein paar Tagen zu erledigen. Mit einem US-Führerschein würde mich dann jede Gesellschaft versichern.
Fahren ohne Versicherung ist in Kalifornien nicht erlaubt. Rick gibt mir deshalb den überprüfenswerten Rat, das Motorrad einfach einmal mitzunehmen und vorerst dafür zu sorgen, dass ich keinen Unfall baue. So lange ich unfallfrei fahre merke nämlich niemand, dass ich keine Versicherung habe. Sorry Rick, ich bin Schweizer. Ich bin vielleicht manchmal etwas naiv, aber ohne Versicherung fahre ich nicht. Meine neue BMW bleibt auf jeden Fall vorerst einmal in Glendale. Die Frage der Versicherung werde ich anders lösen müssen.

Meine Tochter hat das ganze Geschehen aus kritischer Distanz beobachtet. Wir fahren noch nicht zurück nach Santa Monica, sondern zuerst über einen kleinen Umweg nach Pasadena. Wir kennen beide den Namen des Ortes irgendwoher und wollen schauen , wie es da aussieht. Schon nach einer halben Stunde sind wir da und  können ziemlich rasch feststellen, dass es dort so aussieht, wie es in Pasadena eben so aussehen kann, nämlich weder besonders gut noch besonders schlecht. Um diese unspektakuläre Erfahrung reicher fahren wir zurück nach Santa Monica und suchen uns zunächst einmal einen Ort, wo es etwas zum Abendessen gibt.

Später am Abend hole ich dann meinen Plan B hervor. Von den Schwierigkeiten, in den USA mit einem ausländischen Führerschein eine Versicherung abzuschliessen, habe ich ja schon vorher gewusst. Ich hatte einfach gehofft, dass Proitalia das für mich irgendwie auf eine einfache Art erledigen könne. Meine Recherchen im Vorfeld meiner Reise hatten aber auch ergeben, dass es in den USA einen Anbieter gibt, der speziell Fahrer mit ausländischem Führerschein versichert. Die Firma heisst Motorcycle Express (www.motorcycleexpress.com), sitzt in New York und bietet ausschliesslich für ausländische Fahrer sogenannte temporäre Fahrzeugversicherungen für die USA und für Kanada an, also genau das, was ich brauche. Über die Website von Motorcycle Express bekomme ich eine Online-Offerte und kann die Versicherung direkt bestellen. Jetzt bleibt nur noch abzuwarten, wie lange Motorcycle Express braucht, um mir die Versicherungspolice auszustellen.

Reiseroute, Donnerstag, 3. März

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