Tucson – Tombstone

Heute ist Sonntag, mein vierter Reisetag. Der Himmel über Tucson ist tiefblau und es ist wunderbar warm.
In einem Reiseführer heisst es, dass man hier in Südarizona die Stadt Tombstone besichtigen soll, weil dort der berühmte Wyatt Earp gelebt hat. Ausserdem soll die Strecke von Tombstone über Sierra Vista und Sonoita bis zur Grenzstadt Nogales sehr malerisch sein. Da bin ich ja mal gespannt. Ich werde also heute nach Süden fahren, über Tombstone nach Nogales an der Grenze zu Mexico und dann wieder zurück hierher nach Tucson.
Wenn die amerikanischen Durchschnittsfamilien ihr Sonntagsprogramm ähnlich gestalten wie die Familien in der Schweiz, dann wird der Verkehr heute etwas dichter sein als das, was ich bisher hier erlebt habe. Darum breche ich heute Morgen rechtzeitig auf.

In Tucson leben etwa eine halbe Million Menschen. Die Stadt ist also um einen Viertel grösser als Zürich, die grösste Schweizer Stadt. Bis ich von meinem Motel im Nordwesten von Tucson über den Highway das südöstliche Stadtende erreiche, dauert es eine ganze Weile - eine ziemlich langweilige Weile, um genau zu sein. Als ich nach einer Stunde den Highway in Richtung Tombstone verlasse, pendeln meine Stimmung und meine Motivation bereits gefährlich nahe um den Nullpunkt herum. Nach einer kurzen Verpflegungspause ist zwar mein Zuckerspiegel wieder in Ordnung. Meine Motivation braucht aber noch etwas mehr Zuspruch, um richtig zu erwachen. Die Fahrt übers Land nach Tombstone hilft da wenig. Es geht alles geradeaus, und zu sehen gibt es auch nichts. Tombstone selber ist ein unattraktives Kaff. Daran ändert auch die grosse Statue von Wyatt Earp nichts.
Nach kurzem Suchen finde ich die schmale Nebenstrasse, die von Tombstone nach Sierra Vista führt und ganz malerisch sein soll. Vielleicht habe ich einfach zu viel erwartet. Dafür kann die Gegend hier ja nichts. Schliesslich finde ich mich damit ab, dass es hier weder tolle Motorradstrecken noch atemberaubende Landschaften und auch keine historisch bedeutsamen Stätten zu sehen gibt. Danach dauert es nicht mehr lange, und meine Motivation ist wieder da.

Strasse nach Tombstone

Hügelkette bei Tombstone

Die Gegend hier hat sehr wohl einiges zu bieten. Es sieht aber ganz so aus, als ob sie ihre Besonderheiten nicht ohne weiteres zeigen wolle. Vielleicht verlangt die Landschaft hier von einem Betrachter einfach etwas mehr Zeit oder mehr Aufmerksamkeit. Tatsächlich entdecke ich so die eine oder die andere Perle.
So liegen zum Beispiel mitten in der Ebene vor mir ein paar kleine, spitzige Hügel. Der Reiseführer berichtet, dass vor einigen Jahren zwei junge Männer in diesen Hügeln per Zufall ein grosses Tropfsteinhöhlen-System entdeckt haben. Über mehrere Jahre hinweg haben sie dieses System dann im Geheimen erkundet und erschlossen. Erst dann haben sie dem zuständigen Bürgermeister von ihrer Entdeckung erzählt und ihm damit eine pfannenfertige Touristenattraktion geliefert. Diese Tropfsteinhöhlen stellen offenbar heute eine der grossen Attraktionen in der Region hier dar.

Etwas wenige spektakulär ist das Farbenspiel, das hier im Frühling jetzt stattfindet. Soweit man sehen kann dominieren in der Ebene das Gelb des Grases und das Graubraun der Sträucher und Bäume und erwecken den Eindruck von lebloser Kahlheit und Trockenheit. Erst wenn der Blick etwas verweilt zeigt sich, dass da und dort ein hellgrün-weisslicher Streifen von jungen Blättern und ersten Blüten darüber liegt, wie ein sanftes Zeichen der Vorahnung, dass das, was jetzt noch dürr und trocken wirkt, schon bald wieder lebendig sein und neu austreiben wird.
Der Strasse entlang sind Telefonmasten aufgereiht. Ihr hellbraunes Holz und ihre ausladende, kantige Form heben sich deutlich ab von den weichen Wellen der Sträucher und Gräser. Verbunden durch die Drähte sieht es aus als ob sie eine Kette aus Kreuzen bilden, die sich gemeinsam mit der Strasse bis zum Horizont hin zieht. Wie Skulpturen ragen die Masten in den stahlblauen Himmel, kleine Wahrzeichen des Wilden Westens.

Wie Mahnmale strecken vereinzelte schwarz verkohlte Sträucher ihre toten Äste ins helle Frühlingslicht und erzählen von der Dürre vergangener Jahre, wo offenbar ein unbedachter Funke genügt hat, um die vertrocknete Vegetation mit einem Buschbrand zu überziehen.

Rund eine Stunde brauche ich, um ganz gemütlich die 20 Meilen zwischen Tombstone und Sierra Vista zurückzulegen. Die Nebenstrasse führt mich direkt in ein Wohnquartier in Sierra Vista. Obwohl ich möglichst leise und mit niedriger Geschwindigkeit fahre, scheuche ich einen Roadrunner auf, der sich gerade in einem der Vorgärten herumgetrieben hat. Zum ersten Mal sehe ich diesen Vogel in freier Wildbahn. Ich erkenne ihn an seinen eckigen Bewegungen, die ganz genau so sind, wie ich es aus den Zeichentrickfilmen kenne. Ganz gemächlich überquert er vor mir die Strasse, bleibt dann am Strassenrand im freien Grasland stehen, schaut zu mir herüber und wartet ab. Als ich anhalte und die Kamera hervor nehme versteckt er sich zuerst hinter einem Strauch und verschwindet schliesslich in den Büschen.

Von Sierra Vista aus führt eine Nebenstrasse durch hügeliges Gelände nach Canelo und dann weiter nach Sonoita. Auf der Karte sieht es so aus, als ob die rund 40 Meilen eine spannende Motorradstrecke abgeben würden. Allerdings ist es gar nicht so einfach, hier in Sierra Vista diese Strasse zu finden. Nach einigem Suchen finde ich schliesslich die richtige Richtung. Die zuerst sehr breite, mehrspurige Strasse wird immer schmäler. Der Verkehr nimmt immer mehr ab, und irgendeinmal fahre ich ganz alleine auf dieser Strasse in die Richtung der Hügel von Canelo. Es dauert auch nicht mehr lange bis ich sehe, warum das so ist: Vor mir taucht ein Schlagbaum auf. Die schöne Strecke, die ich ausgesucht habe, führt offenbar mitten durch militärisches Sperrgebiet. Das hätte ja jetzt nicht sein müssen, oder?
Natürlich ärgere ich mich darüber, dass ausgerechnet der schönste Teil meiner Tour nicht befahrbar ist, und erst recht darüber, dass es eine Sperrzone der Armee ist, die meine Weiterfahrt hier verhindert. Die US Armee ist doch sonst überall auf dieser Welt unterwegs. Warum muss sie denn ausgerechnet hier im Süden von Arizona diesen schönen Flecken auch noch besetzt halten? Aber alles Jammern hilft nicht. Mir bleibt nichts Anderes übrig, als über die grossen, geraden Strassen nach Sonoita zu fahren. Von dort aus werde ich dann wieder nach Tucson zurückkehren. Eigentlich wollte ich ursprünglich noch weiter nach Süden bis nach Nogales fahren. Das würde aber bedeuten, dass ich heute noch mindestens drei Stunden unterwegs wäre, und dazu habe ich jetzt einfach keine Lust mehr.

In Sonoita angekommen suche ich zuerst einmal eine Tankstelle. Dort stehe ich neben einer Gruppe von Harley-Fahrern. Wie üblich grüsse ich sie, aber keiner grüsst zurück, keiner sagt ein Wort. Das habe ich in den paar Tagen hier in den USA noch nie erlebt.
Der sympathische Mann an der Tankstellenkasse ist da ganz anders. Er ist etwas älter als ich und bedient mich ausgesprochen freundlich und höflich. Es ist richtig herzerwärmend, wie er zur Begrüssung „Hi Sir, how are you?“ sagt und dabei lächelt. Das ist auch so, als er sich bei mir bedankt und mich verabschiedet: „ Thank you Sir, have a nice Day!“ Dabei geht es gar nicht so sehr um das, was er sagt, als um die Art, wie er sich zu mir wendet und wie er sich mir gegenüber gibt. Es macht den Eindruck, als ob er zutiefst davon überzeugt sei, dass es im Kontakt mit anderen unbedingt Freundlichkeit, Liebenswürdigkeit und Zugänglichkeit braucht, weil nur diese das Eigentliche darstellen, weil nur diese uns weiterbringen. Wer hätte je gedacht, dass ich über die Freundlichkeit eines alten Mannes an einer Tankstelle in Arizona so ins Schwärmen geraten würde?

Schwarze Rinder

Windrad

Die Strasse von Sonoita nach Tucson führt dann doch noch durch eine etwas hügelige Gegend. Hier gibt es deutlich viel mehr Bäume und Sträucher mit grünen Blättern als in den anderen Regionen, durch die ich heute gefahren bin. Offenbar gibt es in dieser Gegend hier viel mehr Wasser. Hier sehe ich auch zum ersten Mal die schwarzen Rinder, die Windräder und die Wasserpumpen, die zu den Klischees aus den alten Westernfilmen gehören. Ganz unerwartet wird die Strecke schliesslich doch noch richtig kurvenreich. Als ich wieder auf den Highway zurück nach Tucson einbiege liegt ein richtiges Highlight hinter mir.
Gegen 16.00 Uhr bin ich zurück im Motel. Bei einem Bier in der warmen Abendsonne lasse ich diesen Tag noch einmal an mir vorüberziehen. Auch wenn mir jetzt angenehm wohlig ist, und auch wenn einige schöne Bilder noch einmal auftauchen, war dieser Tag heute nicht so einfach, wie ich es erwartet hatte.

Reise Sonntag, 13.03.2016

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