Escondido – Fallbrook

Auf der Tour heute fahre ich den zweiten Teil der schönen Strecken in der Region San Diego. Es ist Sonntag, der Himmel ist strahlend blau, es ist warm und schon nach 10.00 Uhr, und die meisten Kollegen sind mittlerweile auch unterwegs und wollen den Prachtstag für eine Ausfahrt nutzen. Nicht nur die Ausfahrer sind unterwegs. Auch die Rennfahrer sind in ganzen Rudeln auf der Strecke. Gut, Rennfahrer ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Sie fahren zwar hochtourig auf hochgezüchteten Maschinen, tragen Lederkombis mit dicken Rücken- und Knieprotektoren und immer, wenn sie durch eine Kurve fahren lehnen sie sich aus dem Sattel in die Kurve und strecken das Knie Richtung Boden, genau so, wie es die Rennfahrer im Fernsehen auch machen. Es wäre ihnen zu wünschen, dass es Spass macht, so zu fahren. Aber mit ihrem Fahrstil erreichen sie fast nichts. Sie fahren die Kurven weder sauber und noch schnell. Nur auf den geraden Strecken drehen sie auf und fräsen wie die Idioten. Es erinnert mich ein bisschen an die Art, wie wir mit 10 bis 14 Jahren Ski gefahren sind: Sobald es die Piste zugelassen hat sind wir damals wie Russi oder Collombin in die Hocke und haben versucht, Tempo zu machen.

Palomar Mountain

Die erste Etappe führt auf den Palomar Mountain. Die Bergstrecke dort hinauf ist offenbar eine der Rennstrecken der Region, denn die eben beschriebenen Kollegen sind hier rudelweise unterwegs, oder sie stehen am Strassentand und diskutieren Rennstrategien.

Lake Henshaw 1

Regenbogenwolken

Lake Henshaw 2

Aber schon auf der Fahrt vom Palomar Mountain weg zum Lake Henshaw in Richtung Süden gibt es kaum mehr Rennfahrer. Ich begegne immer wieder einem einzelnen Fahrer auf einer Harley, aber der verhält sich völlig atypisch. Sein Fahrzeug macht fast keinen Krach, und immer, wenn er mich hinter sich sieht, zieht er rechts ran und winkt mich durch. Einmal sehe ich ihn von vorne. Er ist auch etwas älter ist als die Rennfahrer von vorhin.

Wuestenebene

Eidechse

Rote Kaktusbluete

Roter Kaktus

Es geht wie gestern hinab in die Wüste und dann wieder zurück in die Berge. Es ist ein Fahrtag, wie es ihn selten gibt: Die Strecke ist optimal, kurvenreich, die Strassen in gutem Zustand, wunderschönes Wetter, kaum Verkehr. Ich ertappe mich dabei, wie ich wieder Tierchen oder Blümchen fotografiere. Aber es gibt heute landschaftlich nichts Neues, und die Tiere und Pflanzen sind wirklich schön und machen Freude, also warum auch nicht? Es ist ein durch und durch zufrieden machender, runder Tag ohne bemerkenswerte Vorkommnisse, ein Tag zum geniessen, so wie ein Glas Moscato lustig zum trinken ist.
Am späteren Nachmittag droht dann kurz dasselbe zu geschehen wie am Vortag: Es herrscht Heimreiseverkehr in langsamen Kolonnen. Heute zeigt aber ein Kollege, wie das hier mit dem Überholverbot im Allgemeinen so zu verstehen ist, und nachdem ich dem einen oder anderen Fahrer eine Weile zugeschaut habe, bekomme ich ein wenig ein Gefühl für die situative Ernsthaftigkeit von Überholverboten in der Region.

Für die letzte Etappe heute habe ich noch eine kleine Umwegstrecke geplant, die auf der Karte so schön kurvenreich ausgesehen hat. Die wird zum absoluten Highlight des Tages. Es ist eine kleine Strasse, die oft unter tief herabreichenden Ästen durchführt, aber immer übersichtlich bleibt. Die Strasse ist richtig kupiert, mit kleinen Auf und Ab, mit schräg gestalteten Kurven, und praktisch ohne Verkehr. Es ist wie Buckelpisten fahren an der Wärme, ein richtiges Dessert, Erdbeeren mit Rahm nach dem Moscato.

Hohle Gasse

Das Motel in Fallbrook wird von einer sehr sympathischen jungen indisch-stämmigen Familie geführt. Die Dame des Hauses arbeitet an der Rezeption. Sie hat eine besondere, ganz aktive Mimik. Es ist, als ob sich ihr Gesicht sofort synchron zu jedem Gedanken und jedem Gefühl bewegen würde: Augenbrauen zusammen, Stirne runzeln, lächeln, gross schauen, fragend schauen, wieder lächeln: „Oh, you come from Switzerland, yes?“
Während ich dann das Gepäck ablade fahren Vater und Sohn vor. Sie kommen vom Pizza-holen nach Hause. Der Junge ist vielleicht 6 Jahre alt, ganz dünn, mit grossen, dunklen, wachen und neugierigen Augen. Er nimmt seinen Vater gleich bei der Hand, schaut auf mich und beginnt zu tuscheln. Der Vater lächelt, grüsst mich und erklärt, er habe seinem Sohn gerade gesagt, dass dies ein BMW-Motorrad sei, und das habe der Junge noch nie gesehen und gemeint, das wolle er sehen. Ich helfe dem Jungen, auf die Olga zu steigen. Sie ist ja auf dem Zentralständer und auf Leerlauf geschaltet, ein bisschen hoch für sein Alter, aber schliesslich sitzt er im Sattel. Dann zeige ich ihm, wo der Startknopf ist, und nach zwei, drei Versuchen springt Olga dann an. Der Junge ist viel zu beherrscht, als dass er gross Freude zeigen würde, aber er schaut mich so mit seinen grossen Augen an, dass ich glaube zu verstehen. Ich helfe ihm wieder runter, und er läuft sofort zu seinem Vater, nimmt ihn an der Hand und muss ihm sofort ganz unglaublich viel ganz Wichtiges erzählen, selbstverständlich nur tuschelnd.
Schräg über die Strasse ist ein mexikanisches Restaurant. Da gibt es Abendessen, Carnitas mit Bohnen und Reis. Carnitas sind gebratene Strähnchen aus langsam gegartem Schweinefleisch, hervorragend und zum nachkochen notiert.

Ich denke noch ein wenig über diesen schönen Tag nach, der sich dadurch auszeichnet, dass alles bestens gewesen ist, und dass es kaum etwas besonders Erwähnenswertes gegeben hat. Ich bin aber heute auch nicht immer mit dem Kopf bei der Sache gewesen. Gut, eine schöne Sache am Motorradfahren ist es ja, dass man mit dem Kopf mal woanders ist und irgendwelchen Themen nachhängen kann. Heute bin ich mit dem Kopf ab und zu bei den liebenswürdigen und wohlwollenden Mails gewesen, manchmal auch bei den nachdenklich stimmenden Mails, die ich als Reaktion auf meine Abwesenheitsmeldung erhalten habe. Vielleicht hat auch das zu diesem Gefühl beigetragen, dass heute alles seine Richtigkeit gehabt hat.
Auf dieser Tour durch den Westen der USA bekomme ich es mit dem zu tun, was es bedeutet, einen Traum wahr werden zu lassen. Wenn man davon spricht, dass Träume wahr werden, dann hat das so einen Beiklang wie in dem Schlaflied: „Mutter schüttelt s Bäumelein, drab fallen viele Träumelein“. Wenn ein Traum wahr werden soll, dann klingt das wie sich hinlegen, lächeln und zuschauen, wie es gut wird. Das stimmt auch. Wenn ein Traum wahr wird, dann ist es zum einen Teil ganz genau so. Zum anderen Teil muss ich auch etwas dazu beitragen, damit der Traum ein Teil der Wirklichkeit wird. Es braucht Entwicklungsleistung, Projektarbeit nach den Regeln des Handwerks, damit es möglichst gut herauskommt. Anders als in einem klassischen Projekt kann ich die Verwirklichung meines Traums hier aber nicht vollständig planen, weil ich nur zwei Grössen kenne, nämlich den verfügbaren Zeitraum von drei Monaten und das Ziel, am Ende der Zeit in Anchorage zu sein. Vom Rest habe ich noch keine Ahnung. Die Detailarbeit, die Planung der Route und die Aufwandschätzung, geschieht aus dem Bauch heraus von Tag zu Tag. Erst wenn ich später über den Tag etwas schreiben will merke ich, wie die Planung wirklich funktioniert hat und was das für die restliche Zeit und für das Ziel bedeutet. Ich mag beide Teile der Verwirklichung meines Traums. Ich mag den Teil, wo ich daliege und mich freue. Ich mag auch den Teil, wo ich dazu beitrage, dass es möglichst gut herauskommt. Es ist eine gute Erfahrung, zu merken, dass es auf dieser Reise hier beides, geniessen und arbeiten, in ausbalancierter Form braucht.
Ausser der Traumverwirklichung gibt es da noch ein zweites Projekt, das zeitgleich stattfindet, und das ich im Vorfeld weder geplant noch als solches identifiziert hatte: Das Schreibprojekt. Ich hatte mir bei der Reisevorbereitung vorgestellt, dass ich jeweils am Abend ein paar Bilder auswählen und dazu ein paar Zeilen schreiben würde. Das hatte ich ursprünglich mit meinem Blog gemeint. Es ist aber etwas Anderes geworden. Es ist zum einen das Instrument geworden, mit dessen Hilfe ich über das nachdenke, was ich hier tue. Das braucht zum Nachdenken, zum in Gedanken Nachhängen und zum Schreiben viel mehr Zeit, als die paar Zeilen, die ich ursprünglich gemeint hatte. Zum anderen ist es ein Reisetagebuch geworden, ein Schreibprojekt, an das ich Ansprüche stelle, weil es öffentlich zugänglich ist. Darum möchte ich, dass der Inhalt angemessen umfangreich und gewichtet ist, dass der Text in sauberem und gut lesbarem Deutsch geschrieben ist, dass ich zwar persönlich, aber auch öffentlichkeitstauglich berichte, und dass die Bilder einen visuellen Eindruck von meinen Erlebnissen vermitteln. Das hat sich das im Verlauf der letzten Wochen so entwickelt, ohne dass ich mir über den Aufwand und die Bedeutung für die Reise im Klaren gewesen wäre. Jetzt weiss ich, dass ich es so haben will. Ich will den Aufwand leisten, weil ich weiss, dass sich viele wichtige Dinge erst zeigen, wenn ich über das Erlebte schreibe. Der Blog ist darum mein bisher grösstes Schreibprojekt, und ich will es nutzen, um mich im Schreiben zu üben und zu schauen, was dabei herauskommt, wie es mir damit geht und welche Reaktionen es darauf gibt.

Reiseroute vom Sonntag, 3. April 2016

Kommentare

  • Jürg Iten Sonntag, 10. April 2016 Antworten

    Grüezi Martin
    Wenn ich mal wieder in Deinem Blog lese, denke ich zuerst, dass ich zwar nicht so viel Zeit habe oder nehmen will, um alles zu lesen. Jedoch passiert es mir erfreulicherweise jedes Mal, dass ich stehen bleib und mich Dein Werk einschliesst.
    Ich hoffe, Du fühlst Dich so nicht noch mehr verpflichtet mit Deiner Schreibarbeit. Ich denke mir aber, da Du dies selbst so nochmals entschieden hast, würdest Du Dich auch davon wieder befreien können, falls Dir danach ist :-).
    Jedenfalls sind Deine Einträge unglaublich gut verfasst, dass man wirklich dabei ist. Dies setzt neben einer recht ordentlichen Portion Displizin und Können auch die entsprechend hohe Wahrnehmung der gerade stattfindenden Gegenwart voraus, die ich zwar von Dir kenne, mich jedoch immer wieder überrascht und fasziniert!
    So long Cowboy, geniesse weiter Dein Abenteuer im hier und jetzt.
    Liebe Grüsse
    Jüge

    • Martin Bünger Montag, 11. April 2016 Antworten

      Danke Jürg, jetzt, wo mich keiner sieht, nehme ich mir etwas Zeit zum ein bisschen rot werden, ok?

  • Jürg Iten Dienstag, 12. April 2016 Antworten

    Would you mind giving us a selfie how this looks like without hair ??.?

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