San Francisco – Fort Bragg

Eigentlich hätte ich heute Morgen noch etwas in der Umgebung meiner Unterkunft hier in San Francisco spazieren gehen und fotografieren wollen. Aber es regnet. So macht es keinen Spass, spazieren zu gehen, und ans Fotografieren ist erst recht nicht zu denken.
Die Golden Gate Bridge möchte ich aber unbedingt sehen. Es gibt offenbar zwei Orte, von denen aus man die Brücke gut sehen kann: Crissy Field und Fort Point. Mir sagen beide Namen nichts, aber per Zufall liegen sie beide nur ein paar hundert Meter von meiner Haustür entfernt. Ich werde später unterwegs irgendwo anhalten und frühstücken. Jetzt will ich zuerst einmal von diesem lausigen Hotel hier wegkommen und einen Ort finden, wo ich ein möglichst gutes Bild der Brücke schiessen kann.
Fort Point liegt direkt am Südende der Golden Gate Bridge. Dort sieht man aber nur auf die Fahrbahn der Brücke. Crissy Field liegt etwas weiter von der Brücke entfernt, aber zu weit, um bei diesem Nebelregen einen guten Blick auf die Brücke zu kriegen. Aber wozu bin ich Schweizer? Die Wahrheit liegt einmal mehr in der Mitte. Mitten zwischen Fort Point und Crissy Field liegt Torpedo Wharf, ein Ausleger, der in die San Francisco Bay hinaus ragt. Von dort aus kann man wenigstens einen Teil der Brücke sehen.

Bei diesem nassen Wetter sind heute nur Jogger, Biker, Hundebesitzer und Fischer unterwegs. Daher falle ich schon ein wenig auf, wenn ich mit dem Helm in der Hand und den Motorradkleidern neben den Fischern auf Torpedo Wharf stehe. Einer der Fischer schaut zu mir herüber, setzt ein breites Grinsen auf und ruft, dass heute wohl nicht gerade das richtige Wetter zum Motorradfahren sei. Für ihn sei es ja gleich nass wie für mich, entgegne ich. Aber er lacht nur und meint, dass Nässe und Wasser sicherlich mehr mit Fischen zu tun habe als mit Motorradfahren. Tja, wo er recht hat hat er recht.
Eine ganze Weile bleibe ich neben dem Fischer stehen und schaue ihm zu. Er ist etwa 70 Jahre alt, etwas korpulent, hat dunkle Haut und asiatische Gesichtszüge. Seine ruhige und geübte Art, mit dem Köder und der Rute umzugehen, zeigt, dass er ein alter Routinier ist. Die dicken, faltigen Hände machen die notwendigen Bewegungen wie von selbst. Ein Finger klappt mit einer kleinen Bewegung den Bügel der Rolle zurück. Ein anderer hält die Angelschnur fest. Dann holt der Fischer mit der Rute aus und wirft scheinbar ganz ohne Anstrengung den Köder weit hinaus, viel weiter als alle anderen Fischer, die dabei auch noch viel mehr Kraft einsetzen. Dann tippt er den Bügel leicht an, so dass der wieder zurückschnappt, dreht gleichzeitig die Rute etwas, so dass die Rolle fast nach oben schaut, und während er mit der anderen Hand die Kurbel dreht und den Köder ganz ruhig wieder einholt prüft er mit dem Zeigefinger der einen Hand wie von selbst, ob die Angelschnur wieder richtig aufgespult wird. Den Bügel öffnen, auswerfen, den Bügel wieder schliessen, kurbeln und einholen, das wiederholt er immer wieder. Plötzlich zeigt der Fischer auf eine Stelle etwas weiter draussen, wo gerade eine Delphinschule ganz elegant ihre Bogen schwimmt, auf und ab, mit derselben Regelmässigkeit und Ruhe, mit der auch der Fischer sich bewegt. Auf der anderen Seite der Plattform schauen die Köpfe einiger See-Elefanten aus dem Wasser. Der Fischer runzelt die Stirn, und fragt, was wohl los sei, dass die Tiere um diese Zeit dort seien.
Etwa 15 Fischer stehen zurzeit auf der Plattform. Etwa eine halbe Stunde lang schaue ich ihnen zu. In dieser Zeit fängt keiner von ihnen einen Fisch. Schliesslich packt einer nach dem anderen seine Sachen zusammen und zieht ab.

Der obere Teil der Golden Gate Bridge ist vom Nebel verhüllt. Deshalb kann ich nur unvollständige und so halbwegs geheimnisvolle Bilder der Brücke machen. Dabei hatte ich es mir so schön vorgestellt, wie ich in San Francisco bei strahlendem Sonnenschein ein Selfie von mir mit der roten Brücke und dem blauen Himmel im Hintergrund machen und dazu „Wandering“ von James Taylor hören würde. Aus diesem Bild wird heute nichts, aber den Song von James Taylor habe ich dabei:

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Die Fahrt heute ist kein Vergnügen. Der alte Fischer hatte natürlich recht: An einem Tag wie heute wäre ich unter anderen Umständen sicher nicht mit dem Motorrad unterwegs. Aber ich will meinen Fahrplan einhalten und heute bis Fort Bragg fahren. Eigentlich hätte ich heute Abend gerne in Mendocino Station gemacht. Ich erinnere mich an einen Schlager meine Jugendzeit, in dem der Ort vorkam. Leider habe ich in Mendocino keine Übernachtungsmöglichkeit gefunden. Darum fahre ich nach Fort Bragg. Eigenartig, es sieht ganz so aus, wie wenn das heute ein Tag der verpassten Chancen wäre.
Heute fahre ich zuerst etwa 80 Meilen über den Highway 101, um aus der Stadt und der Agglomeration von San Francisco herauszukommen. Der Highway 101 und die Küstenstrasse verlaufen nördlich von San Francisco parallel zueinander in einem Abstand von etwa 50 Meilen. Dazwischen scheint eine attraktive Hügelregion zu liegen. Wenn möglich werde ich immer wieder zwischen den beiden Strassen hin und her pendeln und auf möglichst attraktiven Motorradstrecken durch die Hügel fahren.

Reben nördlich von San Francisco 1

Reben nördlich von San Francisco 2

Bei Geyserville biege ich ab und fahre durch die verregnete Rebenlandschaft. Hier ist alles saftig und grün. Die Reben tragen schon richtig grosse Blätter und stehen in kleineren Parzellen in Reih und Glied. Ich erinnere mich an unsere Herbsttour im letzten Jahr in Südfrankreich, wo die Rebenblätter je nach Parzelle eine andere Färbung hatten und so einen rot-gelben Natur-Patchworkteppich gebildet hatten. Hier herrscht einheitliches Frühlingsgrün, da gibt es kein Patchwork.

Lake Sonoma

Etwas weiter oben wird es ziemlich neblig. Einer der Aussichtspunkte liegt aber gerade noch unterhalb der Wolkendecke. Dort habe ich einen schönen Blick von oben auf den Lake Sonoma, mystisch umgeben von Bäumen und Nebel.
Leider ist es gerade dieser Nebel, der die Strasse nass macht. Ausserdem ist sie auch noch schmal, kurvenreich und dadurch unübersichtlich. Ich fahre sehr vorsichtig und komme dadurch nicht so recht vom Fleck. Mit der Zeit beschleicht mich ein ungutes Gefühl. Ich frage mich, ob das klug ist, was ich da mache und ob diese Strasse wirklich zur Küste führt. Als endlich Stewarts Point vor mir auftaucht bin ich ziemlich erleichtert.

Keltische Küste vor Mendocino

Eigentlich wollte ich heute durch die Hügel zwischen dem Highway 101 und der Küstenstrasse fahren. Mein Plan war, im Zickzack zwischen den beiden grossen Strassen nach Norden zu fahren. Weil es in den Hügeln aber so neblig und nass ist, gebe ich diesen Plan auf. Ab Stewarts Point fahre ich nur noch der Küste entlang nach Norden. Es ist zwar auch auf der Küstenstrasse ziemlich dunstig. Mit der Zeit lässt aber der Regen nach, und auf den letzten paar Meilen ist die Strasse sogar wieder trocken. Der Dunst verleiht der Küste etwas Keltisch-Geheimnisvolles.

Gegen 16.00 Uhr treffe ich in Fort Bragg im Motel ein.
„How was your day, Sir?“ fragt die nette Dame an der Rezeption.
„Wet and cold,“ antworte ich. Ich frage, ob sie denn heute nie draussen war und das grau-nasse Wetter erlebt hat? Darauf reagiert sie mit einem ziemlich frechen Lachen. Nein, hier sei es weder kalt noch nass gewesen. Ich weiss gerade nicht, was ich davon halten soll. Wie auch immer, ich lade ab, packe nur gerade das Nötigste aus, springe in die Dusche um mich aufzuwärmen, und krieche dann unter die warme Decke. Unterwegs auf einer grosen Motorradtour durch die USA bin ich schon um 16.30 Uhr im Bett - was soll denn das heissen? Ich weiss es: Mir ist kalt, und ich will mich aufwärmen. Wer etwas Böses denkt könnte aber durchaus glauben, ich würde schon für spätere Zeiten üben.
In Fort Bragg gibt es ein Restaurant mir guten Bewertungen. Da gehe ich heute Abend hin. Das Rating ist berechigt: Ich bekomme wirklich feine Lammchops. Nach einem kurzen Spaziergang bringe ich zu Ende, was ich vor dem Abendessen angefangen habe: Ich krieche wieder unter die Bettdecke.

Reiseroute am Samstag, 9. April 2016

Kommentare

  • Albert Schädli Dienstag, 26. April 2016 Antworten

    Hallo Martin

    Kompliment die bekannte Brücke sieht super aus mit dem Nebel.
    Ich hoffe es geht Dir gut und Du vermisst uns.

    LG
    Albert

    • Martin Bünger Dienstag, 26. April 2016 Antworten

      Vielen Dank, Albert! Ein Kompliment von dir für dieses Bild, das freut mich sehr.
      Ja, mir geht es sehr gut und ich vermisse dich. Bist du jetzt Papst, oder warum sprichst du im Pluralis Majestatis?
      Herzliche Grüsse Martin

  • Martin Bünger Dienstag, 18. April 2017 Antworten

    Ein Jahr später bin ich übrigens wieder in San Francisco, diesmal aber bei strahlendem Sonnenschein. Weil ich ein Bild der Golden Gate Bridge bei Sonnenschein schiessen möchte gehe ich wieder auf die Plattform und treffe per Zufall denselben alten Fischer wieder. Diesmal frage ich ihn, ob ich ein Bild von ihm machen darf. Darüber scheint er sich zu freuen.

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