Der Tag heute fängt etwas holprig an. Das Motel hier in Redding bietet selbst gar kein Frühstück an. An der Rezeption drückt man mir lediglich einen Gutschein in die Hand, mit dem ich in einem Restaurant in einiger Entfernung ein Frühstück kriegen soll. Statt in Ruhe Frühstücken zu können muss ich mir jetzt also zuerst überlegen, was ich unter diesen Umständen beim Packen und Laden anders machen muss. Ich werde mich ja wohl nicht in Vollmontur zum Frühstück setzen. Meine Toilettensachen werde ich ausserdem auch noch brauchen. Ich merke gleich: Das Ganze hier wird heute ziemlich kompliziert. Ausserdem muss ich heute auch noch einen Walmart finden und weiss noch nicht, ob ich da besser vor oder nach dem Frühstück hinfahre. Dabei wollte ich heute doch möglichst rasch nach Chico aufbrechen, weil dort der nächste BMW-Händler ist. Olga gibt nämlich an, dass sie einen Service braucht. Damit rechne ich zwar schon seit San Diego. Aber diese ganzen Komplikationen hier machen diesen Morgen einfach völlig unnötig unrund.
Gut. Nach und nach nimmt meine Jammerlaune ab. Es dauert noch eine Weile, und dann komme ich langsam bei normalen psychischen Betriebsbedingungen an. Ein kleiner Umweg bringt mich zur nächsten Walmart-Filiale. Ausgerüstet mit einer neuen Datenkarte fahre ich die paar Kilometer zum Frühstück zum Restaurant Lumberjack, wo ich ein Frühstück kriegen soll.
Lumberjack ist eine Restaurantkette, die sich ganz dem Holzfällerlook verschrieben hat. Hier frühstücken die einheimischen Arbeiter neben den Touristen in aller Gemütlichkeit und in einer ganz entspannten und liebenswürdigen Atmosphäre.
Eine freundliche Dame in meinem Alter fragt mich nach meinen Wünschen. Frühstück Nummer vier hätte ich gerne. Das ist zwar nicht weiter schwierig, aber ganz so einfach scheint es dann auch wieder nicht zu sein. Kaum habe ich meinen vermeintlich übersichtlichen Wunsch - Frühstück Nummer vier - höflich deponiert, da überschwemmt mich die Dame mit einem ganzen Schwall an Fragen:
"Was möchtest du trinken?" – "Einen heissen Kräutertee."
"Gut ich werde schauen, was wir haben. Wie möchtest du die Eier?“ – "Wie könnte ich sie denn haben wollen?"
Meine Betreuerin übergiesst mich mit einem unglaublichen Wortschwall, von dem ich nicht zehn Prozent verstehe. Daher nehme ich das, was ich glaube, verstanden zu haben und das ich wahrscheinlich mag: "Over and soft."
"OK, dann kriegst du die Eier medium. Wieviele Toasts möchtest du haben?" - "Wieviele Toasts sind denn dabei?"
"Zwei" - "Gut, die nehme ich."
"Welche Toastsorte möchtest du?" Jetzt drehe ich den Spiess um: "Wieviele Fragen hast du denn noch?"
Sie lacht: "Das ist die letzte." - "Gut, was für Toasts könnte ich denn haben wollen?"
Und wieder überschwemmt sie mich mit einer Fülle von mehrheitlich unverständlichen Informationen, und wieder nehme ich das, was ich glaube, verstanden zu haben.
Es dauert nicht lange und ich bekomme wunschgemäss Spiegeleier, Hash Browns (US-Rösti), Würstchen, Toast und Tee. Die freundliche Dame spricht zwar etwas schnell und viel, aber sie bedient mich ausgesprochen nett, und das Frühstück ist liebevoll zubereitet und schmeckt ausgezeichnet. Jetzt, wo ich weiss, wie es ist, muss ich zugeben, dass sich der Aufwand lohnt. Ich fahre lieber nach dem Aufstehen 20 km durch die Stadt für ein Frühstück wie dieses hier, als in irgendwo in einer ungastlichen Motellobby stehend irgendeine fettig-süsse Pampe aus Plastikgeschirr in mich zu stopfen.
Bestens gestärkt und rundum zufrieden mache ich mich schliesslich auf den Weg. Die Fahrt von Redding nach Chico soll etwa zwei Stunden dauern. Ein kurzes Stück fahre ich auf der Interstate 5, der grossen Nord-Süd-Verbindung an der Westküste, und verlasse sie wieder bei Red Bluff.
Red Bluff ist übrigens ein spannender Ortsname. Ob die Leute hier wohl einmal Erfahrungen mit leeren Versprechungen von Sozialisten gemacht haben?
Ab Red Bluff führt eineLandstrasse nach Chico. Heute ist Dienstag. Morgens um zehn Uhr sind offenbar alle Lastwagen und Traktoren der Region unterwegs. Die Hälfte davon fährt in der Kolonne vor mir. Die andere Hälfte kommt unserer Kolonne auf der anderen Fahrspur permanent entgegen und verhindert so jegliches Überholmanöver. Schicksalsergeben nutze ich die Gelegenheit und schaue mich in der Gegend um, soweit der Verkehr das zulässt.
Hier werden offenbar in grossem Stil Nüsse angebaut. Was Nüsse anbelangt, so ist diese Region hier offenbar das Grenoble der USA. Links und rechts der Strasse stehen Nussbaumplantagen in allen Stadien. Da gibt es ganz neue Plantagen, in denen die kleinen Bäume noch ganz eng mit hochgebundenen Ästen zusammenstehen. Je älter die Plantagen sind, desto grösser sind die Nussbäume, und desto grösser ist auch der Abstand der Bäume untereinander. Wahrscheinlich werden die Bäume in den Plantagen mit der Zeit immer mehr ausgedünnt.
Nicht nur neue und ältere Plantagen sind zu sehen. Auf einigen Feldern haben die Nussbäume offenbar ihr Höchstalter bereits erreicht. Sie sind gefällt worden. Wie auf einem Nussbaum-Schlachtfeld liegen die gefällten Bäume auf dem Boden und strecken ihre Äste zum Himmel. Ein paar Felder weiter sind die Stämme und Äste schon entfernt und die Wurzelstöcke ausgestockt. Die bizarr geformten Wurzelgebilde liegen neben ihren Erdlöchern wie auf einem Nussbaumfriedhof, auf dem es demnächst ein Massenbegräbnis geben wird, eine etwas uncharmante Vorstellung. Das hier wäre etwas für meinen Schlummervater gewesen. Während meiner Studienzeit in Bern habe ich in einem Zimmer vis-à-vis von der Werkstatt von Heinz Müller gewohnt. Heinz hat alte Möbel restauriert oder alte Möbel neu gebaut. Wenn immer möglich hat er Wurzelstöcke von Nuss- und Obstbäumen gesammelt. Wenn die dann nach einigen Jahren gut getrocknet waren hat er daraus die schönsten Fourniere geschnitten. Darum hätte ihm dieser Anblick hier wahrscheinlich gefallen.
Je mehr ich mich der Stadt Chico nähere desto mehr wandelt sich die Gegend. Die Baumplantagen nehmen ab. Links und rechts von der Strasse ist immer mehr Wiesland zu sehen, das sich zu einer weiten, grünen Prärie öffnet, die immer wieder einmal von einem Bach durchzogen ist. Jetzt im April scheint es hier gutes Weideland zu geben. Wie es wohl im Sommer hier aussehen mag?
Um zehn Uhr komme ich in Chico bei Ozzies Motorcycles an. Gestern Abend habe ich mich noch etwas über diesen BMW-Vertreter schlau gemacht. Ozzie hiess eigentlich Oswald Auer. In den Sechzigerjahren ist er zusammen mit seiner Frau aus Deutschland hierhergekommen. In seiner alten Heimat hatte er sich einen Namen als Seitenwagen-Rennfahrer gemacht. Diesen guten Ruf, eine grosse Liebe zu BMW-Motorrädern und ein sehr grosses Fachwissen über Motorräder hat er mitgebracht, als er in die Staaten gekommen ist. Hier in Kalifornien hat er sich dann von der Pike auf hochgearbeitet und erst spät, nämlich in den Achtzigern, sein eigenes BMW-Motorradgeschäft in Chico eröffnet. Ozzie Auer ist 2015 gestorben. Nach seinem Sohn führt jetzt sein Enkel Chris das Geschäft.
Chris empfägt mich heute Morgen. Er ist etwa gleich alt wie ich und kennt sein Geschäft offenbar ganz genau. Ich fühle mich von ihm auf jeden Fall sicher und bestens beraten. Wir besprechen meine Situation und schauen, wie wir vorgehen können. Der Chefmechaniker ist gerade krank. Darum muss ich Olga jetzt gar nicht hier stehen lassen. Morgen soll der Mechaniker wieder hier sein. Gleich morgen früh wird er sich um Olga kümmern. Gemäss dem Meilenzähler müsste ein grosser Service fällig sein, aber Chris vermutet, dass Proitalia in Glendale diesen Service noch vor dem Verkauf hat machen lassen. Darum rechnet Chris damit, dass der Service morgen nur etwa zwei bis drei Stunden dauern wird und ich schon vor dem Mittag wieder weiterfahren kann. Im Gegensatz zu Chris habe ich die Jungs von Proitalia in Glendale etwas kennengelernt. Was den grossen Service anbelangt bin ich da nicht ganz so optimistisch wie Chris. Aber ich werde Olga heute Abend hierherbringen, und dann werden wir ja sehen. Chris gibt mir seine Karte und empfiehlt mir, mich im Best Western Hotel, das nur 300 Meter von hier entfernt ist, einquartieren. Mit seiner Karte soll ich als Kunde von Ozzies Motorcycles im Hotel ein Zimmer zu einem günstigeren Preis bekommen. Tatsächlich, mit der Karte von Ozzies bekomme ich 20% Rabatt und kriege ein grosses Zimmer in einem schönen Hotel.
Gegen elf Uhr habe ich mein Zimmer bezogen, mein Gepäck deponiert, mich eingerichtet und fahre wieder nach Norden zum Lassen Forest. Das ist eine der vielen nationalen (US) Forstlandschaften, die wie Nationalparks unter Schutz stehen. Der Lassen Forest soll vor allem wegen seinem vulkanischen Ursprung interessant sein.
Die Fahrt führt zuerst durch eine spannende Canyonlandschaft, der man ihren vulkanischen Ursprung schon von weitem ansieht. Dann verändert sich die Landschaft und wird immer mehr zur Bergregion. Je höher es hinauf geht desto mehr nimmt auch die Bewölkung zu. Es wird kalt und beginnt auch noch zu regnen. Gerade eben habe ich noch bei Ozzies am Tresen gestanden und geschwitzt, obwohl ich nur ein T-Shirt anhatte. Jetzt, gerade mal eine Stunde später, friere ich, obwohl ich noch in Chico einen Pullover angezogen habe. Die Landschaft ist zwar sehenswert und die Motorradstrecke schön, aber die Strassenverhältnisse sind schwierig. Der Belag ist an vielen Stellen mit Bitumen notdürftig ausgebessert worden. Diese unebenen, nassen und rutschigen Streifen sind ziemlich gefährlich.
Nach fast zwei Stunden schwieriger Fahrt erreiche ich endlich die Abzweigung zum Lassen Forest. Links und rechts von der Strasse liegt etwa ein halber Meter Schnee. Darunter verbirgt sich wahrscheinlich eine tolle vulkanische Landschaft. Aber soll ich hier wirklich frierend vor einer schmutzigen Schneedecke stehen und mir vorstellen, wie schön das sein könnte was ich gerade nicht sehen kann? Nein, ich werde Lassen leider lassen. Vielleicht bin ich ja nicht der erste, dem es so geht, und das hat dem Waldgebiet hier seinen Namen gegeben. In Regen und Kälte suche ich die nächstschnellste Strecke zurück nach Chico.
In Chico angekommen habe ich gerade noch genügend Zeit, um Olga vom gröbsten Dreck zu befreien und sie dann pünktlich um 16.00 Uhr bei Ozzies abzustellen. Mit Chris vereinbare ich, dass ich morgen Vormittag gegen 10.00 Uhr vorbeikomme, um die Lage und allenfalls das weitere Vorgehen zu besprechen. Jetzt will ich nur noch schnell ein kleines Picknick einkaufen, mich dann ganz lange unter die heisse Dusche stellen und mich dann rasch unter der warmen Decke verkriechen.