Chico – Tag 2

Am Morgen bin ich schon früh wach, stehe auf und drehe noch im Dunkeln ein paar Joggingrunden. Um diese Zeit gibt es hier noch kaum Verkehr. Darum suche ich gar nicht lange nach einer geeigneten Strecke. Der Hauptstrasse entlang gibt es einen breiten Grünstreifen. Das ist heute Morgen meine Joggingbahn. Hier am nördlichen Stadtrand von Chico gibt es vor allem Weideland und grosse, leere, asphaltierte Flächen. Meistens sind das leere Ausstellflächen von Autohändlern oder Parkplätze von Kirchen. Dass es in einer Kleinstadt wie Chico so viele Autohändler gibt überrascht mich nicht. Dass es aber ausgerechnet hier so viele Kirchen geben soll finde ich auch für amerikanische Verhältnisse etwas erstaunlich.

Eine dieser Kirchen wirbt für sich mit dem Slogan: „Connecting People with God“. Da mache ich aber grosse Augen. Die Christen gehen doch davon aus, dass Gott in der Gestalt von Jesus zu den Menschen gekommen ist. Gut, die Amerikaner gab es damals noch nicht. Aber 2000 Jahre müssten eigentlich reichen, damit sich herumspricht, dass der Liebe Gott diese Aufgabe übernommen und schon lange erledigt hat. Bis zu dieser Kirche hier ist das aber offenbar noch nicht durchgedrungen.

Karl Kraus, der österreichische Aufklärer und "Meister des giftigen Spotts", hat Solcherlei mit spitzer Feder kommentiert:
"Es genügt nicht, keine Gedanken zu haben. Man muss auch unfähig sein, sie auszudrücken".

Nach dem Frühstück lege ich mir den Tag etwas zurecht:
- Um zehn Uhr findet bei Ozzies die Lagebesprechung statt.
- Bis elf Uhr muss ich gepackt und ausgecheckt haben.
- Um den Mittag herum kann ich wieder aufbrechen.

Allerdings glaube ich nicht so recht, dass der Service für Olga nur drei Stunden dauern wird. Wenn der Service aber länger dauert, dann kann ich heute nicht weiter fahren. Dann sollte ich aber heute Morgen auch nicht auschecken. Was tue ich jetzt?
Ganz einfach: Ich will weder Zeit noch Hotelzimmer verlieren. Darum gehe ich schon eine Stunde früher zu Ozzies. Dort lerne ich den Mechaniker kennen, der gestern krank gewesen ist. Mike ist etwa in meinem Alter, aber etwas grösser und breiter als ich. Eigentlich ist er gar noch nicht richtig gesund. Weil so viel Arbeit auf ihn wartet steht er schon wieder in der Werkstatt und hat sich Olga bereits vorgenommen. Den gebrochenen Gepäckhalter hat er sofort gesehen und schon wieder angeschweisst.
Mike hat eine unglaubliche Menge an Kabel und Elektronikmaterial aus Olga ausgebaut. Jedes einzelne Teil geht er mit mir durch, erklärt, wozu es gut ist und prüft, ob ich das wirklich brauche. Nach einer halben Stunde ist klar: Ich brauche den ganzen Elektronikschrott nicht. Wir  wissen zwar nicht, warum der Vorbesitzer von Olga das ganze Material in seinem Motorrad verbaut hat. Aber es bleibt dabei: Die Zusatzelektronik wird nicht wieder eingebaut. Wenn sie schon keinen erkennbaren Nutzen hat, dann soll sie auch keinen Schaden anrichten.
Leider weiss Mike noch nicht, wieviel Zeit er für den Service brauchen wird. Er möchte die Arbeit bis am Abend abgeschlossen haben. Ich werde also am Nachmittag noch einmal herkommen und schauen, ob er den Service für Olga heute tatsächlich hinkriegt.
Für mich hat es sich auf jeden Fall gelohnt, dass ich eine Stunde früher bei Ozzies gewesen bin. Jetzt ist nämlich klar, dass ich heute nicht weiterfahren werde. Zurück im Hotel verlängere ich meinen Aufenthalt um eine Nacht.
Kaum bin ich wieder im Zimmer ruft Chris an und bittet mich, gleich noch einmal in die Werkstatt zu kommen. Das riecht nach Schwierigkeiten. Tatsächlich, Mike ist richtig sauer. Demonstrativ putzt er seine Brille, deutet mit seinem Ellbogen auf das Armaturenbrett und blafft mich an, was das soll. Hinter Olgas Front-Scheinwerfer baumelt an zwei Drähten ein grosses schwarzes Bauteil. Ich mache gleich klar, dass ich von Technik keine Ahnung habe und auch nicht weiss, worum es hier geht. Mike beruhigt sich etwas und erklärt mir, was hier los ist: Das Bauteil ist eine besonders grosse und laute Hupe. Der Vorbesitzer von Olga hat die Original-Hupe durch diese Sirene ersetzt. Der Einbau wurde aber so stümperhaft ausgeführt, dass mir das Cockpit schon auf der ersten Schotterstrecke um die Ohren geflogen wäre. Ausserdem braucht diese Hupe viel mehr Leistung, als die Bordelektronik hergibt. Dafür hat es die zusätzliche Elektronik gebraucht, die Mike heute Morgen ausgebaut hat.
Ich will diese Riesenhupe nicht haben. Alles, was ich will, ist ein stabiles, funktionstüchtiges und zuverlässiges Motorrad, das mich sicher nach Alaska bringt. Mike wird also wieder eine originale BMW-Hupe einbauen. Aber den Service wird er heute nicht abschliessen können. Das wird noch bis morgen Mittag dauern.

Auf dem Rückweg zum Hotel versuche ich zu ordnen, was ich heute Morgen in der Werkstatt gesehen habe. Eigentlich läuft die Sache hier so, wie ich es vermutet habe. Es braucht einfach mehr Zeit. Das ist zwar etwas blöd, weil ich hier herumsitzen und auf mein Motorrad warten muss. Aber ich bin wirklich froh, dass Olgas Schwächen möglichst früh erkannt und behoben werden können. So wird mein Motorrad für die Fahrt in den Norden bestens vorbereitet sein.

Jetzt ist es elf Uhr morgens. Nach den Turbulenzen kehrt Ruhe ein, und ich habe plötzlich ganz viel Zeit. Trotzdem kommt überhaupt keine Langeweile auf. Ich führe meinen Blog nach, stöbere in meinen Bildern und lasse die letzten sechs Wochen noch einmal an mir vorüberziehen. Ausserdem gibt es gleich um die Ecke einen grossen Outdoor-Fachmarkt. Dort schaue ich mich um und ergänze meine Ausrüstung.

Gegen Abend schaue ich nach, was Chico an Restaurants zu bieten hat. Heute versuche ich es wieder einmal mit italienischer Küche. Diesmal schaue ich aber genauer hin als beim letzten Mal in Holbrook. Das Lokal heisst "California Pasta Production" und wird auf Tripadvisor recht gut bewertet. Übrigens völlig zu Recht. Die Bedienung ist ausgesprochen freundlich, die Atmosphäre liebenswürdig und familiär. Der Chef arbeitet an der Front mit und ist bei den Mitarbeitenden und den Gästen präsent. Während ich auf mein Essen warte habe ich genügend Zeit, um in aller Ruhe den Leuten zuzuschauen und die Geschichten zu verfolgen, die sich in den Gesichtern und Gesten abspielen.
Mein Lachs auf Gemüse ist ausgezeichnet. Schön, dass es nach einem stürmischen Morgen einen so zufriedenen Abend gibt. Etwa eine halbe Stunde brauche ich anschliessend für den Fussweg zurück ins Hotel. Das kommt mir gerade gelegen. Das Menu war doch etwas zu umfangreich für mich.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert