Heute Morgen dauert alles ein wenig länger als sonst. Es war ein langer und intensiver Tag gestern, und dann bin ich auch noch spät zu Bett, weil ich unbedingt noch meine Wäsche waschen musste. Die ruhige, ländliche Atmosphäre tut das ihre noch dazu, und so bin ich eben ein bisschen verlangsamt heute Morgen.
Dann fällt mir wieder ein, dass ich unruhig geschlafen habe. In einer Ebene zwischen Traum und Erinnerung ist eine alte Geschichte in meinem Kopf Karussell gefahren, und ich muss mich heute Morgen mit einigem Aufwand wieder in einen richtig wachen Zustand kämpfen. Vielleicht habe ich im Death Valley gestern auch etwas zu viel Sonne abgekriegt.
Beim Laden besucht mich der Hahn, der hier schon seit Stunden herumschreit, und stellt mir seine zwei Frauen vor. Eigentlich ist es eher ein Hähnchen, ein Federvieh-Napoleon, der offenbar die Machtverhältnisse hier im Hof klarstellen will. Ich erhebe da selbstverständlich keine Ansprüche, sondern bin im Gegenteil sehr erfreut über die Gunst der Privataudienz. Nachdem die Förmlichkeiten offenbar zufriedenstellend erledigt sind wenden sich die drei Viecher wieder ihrem eigentlichen Job zu: Scharren und picken. Ich erinnere mich noch gut an Bilder meiner Kindheit, wie die Hühner im Hühnerhof herumgelaufen sind, wie sie den Kopf nur ruckartig bewegen konnten und was für Geräusche sie dabei von sich gegeben haben. An dieses Scharren kann ich mich aber nicht erinnern. Vielleicht machen das amerikanische Hühner intensiver als Schweizer Hühner - oder die Schweizer Hühner machen es einfach etwas diskreter, das könnte natürlich auch sein.
Meine Grundstimmung bleibt auch nach der Abfahrt ziemlich relaxed. Ich besuche zuerst einmal den Red Rock Canyon, der hier gleich um die Ecke liegt. Der rote, eindrückliche Felsen ist schon von weitem gut zu sehen.
An der Kasse angekommen lege ich dem Parkwächter meine Identitätsskarte und meinen Parkpass hin. Der schaut sich zuerst meine Dokumente, dann mich eine Weile an und zeigt sich ganz erfreut: „Ah, jetzt erinnere ich mich an dich, du bist also doch noch einmal zurückgekommen?“ Leider habe ich keine Ahnung, wen oder was er da meint. Vielleicht ist ja in den letzten Tagen schon ein anderer Schweizer Motorradfahrer hier gewesen. Es könnte auch ein Schwedischer Motorradfahrer gewesen sein, denn dass es zwischen Schweden und der Schweiz einige Unterschied gibt hat sich hier noch nicht überall herumgesprochen. Weil mein Helm, die Sturmhaube und die Sonnenbrille mein Gesicht fast vollständig verdecken und der Parkwächter meine Mimik sowieso nicht sehen kann reagiere ich gar nicht weiter, nehme meine Dokumente wieder zu mir und fahre los in den Red Rock Canyon National Park.
Es dauert auch nicht lange bis mir scheint, dass das Thema hier ziemlich rasch bearbeitet ist: Hier gibt es einen Felsen. Der ist rot und man sieht ihn schon von weitem. Wenn man ihn gesehen hat, dann hat man ihn gesehen. Alles Weitere ist Tourismus und Marketing, so wie es an anderen Orten hier auch schon war, so wie es das Marketing für die Schweizer Berge ja auch ist. Bei den Amerikanern kommt einfach noch dazu, dass sie so viel Platz haben, dass sie es sich leisten können, auch vor einer kleinen schönen Attraktion eine lange geteerte Strasse zu bauen, ein paar Aussichtspunkte einzurichten, die nötigen Karten und Prospekte zu drucken und dann Eintritt für die Attraktion zu verlangen, zumal diese praktisch vollständig mit dem Auto und dem Smartphone zu besichtigen ist. Die Wanderwege in der Schweiz hingegen sind da deutlich aufwändiger herzustellen und zu unterhalten. Ausserdem verlangen sie bei der Nutzung eine deutlich grössere körperliche Leistung, dürfen dafür aber auch kostenlos genutzt werden.
In Las Vegas suche ich einen Ort zum Frühstücken. Weil ich mich aber offenbar in so einer Bonzenregion befinde lande ich am Schluss resigniert in einem Subway. Was soll's? Hier gibt es genügend Platz, Wifi, keine Kunden um diese Zeit und sauber ist es auch. Ich mache etwas Büro und dann die Planung für heute. Eigentlich habe ich mir vorgenommen, heute an den Nordrand des Grand Canyon zu fahren. Die Anfahrt von etwa fünf Stunden sind angenehm kurz im Vergleich mit den langen Strecken der beiden letzten Tage. Morgen will ich dann an den Südrand und dann weiter Richtung Salt Lake City. Bei der Detailplanung sehe ich, dass das so nicht funktioniert. Für die Fahrt vom Nordrand zum Südrand und wieder zurück brauche ich einen ganzen Tag. Das macht keinen Sinn. Also fahre ich heute an den Südrand und morgen dann weiter an den Nordrand, und dann bin ich für Salt Lake City auch schon in der richtigen Position. Leider dauert die Anfahrt zum Südrand einiges länger, und dann muss ich noch weiterfahren, bis ich eine vernünftige Unterkunft bekomme. Die Fahrt heute dauert also wieder sieben bis acht Stunden. Nur blöd, dass ich mir heute Morgen mit dem Red Rock Canyon, dem Frühstück und der Planung so viel Zeit gelassen habe. Ich werde heute Abend also nicht vor 20 Uhr im Hotel sein. Also gut, dann mache ich mich reisefertig.
Ausgerechnet in der Toilette des Subway finde ich dann noch eine Perle: Über dem Lavabo hängt ein Schild, dass sich die Angestellten des Restaurants nach dem Toilettenbesuch zwingend die Hände waschen müssen.
Das erinnert mich an eine andere skurrile Geschichte: Vor ein paar Jahren habe ich öfters Ferienvertretungen für Zeitungsverträger übernommen. Ich musste also sehr früh am Morgen noch bei Dunkelheit Tageszeitungen austragen. Nun war in einem Mehrfamilienhaus in meinem Zustellgebiet ein Mieter vom Erdgeschoss in den obersten Stock desselben Hauses umgezogen. Weil die Briefkästen in diesem Haus geschossweise angeordnet waren, bekam der Mieter auch einen anderen Briefkasten zugeteilt. Jetzt hätte die Zeitung für diesen Mieter neu in den Briefkasten oben links eingesteckt werden müssen, und nicht mehr in den Briefkasten unten rechts wie bisher. Damit das klappt hatte der Mieter extra einen Zettel mit einer entsprechenden Nachricht an seinen neuen Briefkasten geklebt. Der routinierte Zeitungsverträger hatte aber unbeirrt wie bisher die Zeitung in den Briefkasten unten rechts eingesteckt. Und nichts hatte darauf hingedeutet, dass damit etwas nicht in Ordnung gewesen wäre. Der Mieter hatte sich zwar bei der Abonnentenverwaltung und der Zustellorganisation über seine fehlende Tageszeitung beschwert. Aber niemand hat sich erklären können, warum der Mann seine Zeitung nicht mehr gekriegt hatte. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis sie klar geworden ist, was da schiefgelaufen war. Zufällig hatte ich während einer Vertretung diesen ominösen Zettel am Briefkasten oben links einmal zu Gesicht bekommen. Das war vielleicht ein Bild für die Götter. Ich habe mich kolossal amüsiert.
An diese Geschichte erinnert mich das Schild in der Toilette des Subway in Las Vegas. Ich stelle mir vor, wie das sein muss, wenn ein Mitarbeiter des Subways nach seiner Bio-Pause die Toilette verlässt, ohne sich die Hände zu waschen. Das wäre zwar unhygienisch und eklig. Aber er würde das Schild beim Lavabo ganz bestimmt nicht sehen können, weil er ja gar nie dahin blicken würde. Und das wäre dann ein genauso bizarrer Prozessfehler wie der Zettel am neuen Briefkasten. Dabei lässt es das Schild beim Lavabo hier aber noch lange nicht bewenden. Denn um den Unfug mit dem Zettel am Briefkasten noch zu toppen, fordert das Schild beim Lavabo die Subway-Mitarbeiter auch noch in Blindenschrift auf, sich die Hände zu waschen. Was soll man dazu noch sagen? Donnerwetter! Auf so einen scheinbar behindertengerechten Schildbürgerstreich muss man zuerst einmal kommen. Ich versuche, mir diese unglaublich bizarre Situation mit allen Konsequenzen vorzustellen. Zuerst einmal müsste der Subway hier einen blinden Mitarbeiter einstellen. Was genau ein Blinder in diesem Fastfood-Restaurant hier arbeiten könnte, ist mir zwar nicht ganz klar. Aber das ist ja noch lange nicht alles. Wenn es also hier tatsächlich eine blinden Mitarbeiter geben würde, und dieser auch ab und zu die Toilette aufsuchen würde, was würde dann geschehen? Wenn der Blinde pflichtbewusst wäre, dann würde er selbstverständlich das Lavabo suchen und sich dort vorschriftsgemäss die Hände waschen. Er hätte aber keine Ahnung davon, dass direkt vor ihm ein Schild hängen und genau das von ihm verlangen würde, und das extra für ihn auch noch in Blindenschrift. Wenn der blinde Mitarbeiter aber nicht pflichtbewusst wäre und die Toilette ohne Händewaschen verlassen möchte, dann würde er auch keine Ahnung davon haben, dass da ein Schild etwas von ihm verlangen würde. Nicht einmal die Blindenschrift würde etwas daran ändern. Und auch wenn der Blinde einen Blindenhund hätte und diesen hier in den USA mit zur Arbeit nehmen dürfte und diesen auch noch zur Toilette mitnehmen würde. Es würde sich nichts daran ändern. Und wenn der Blinde dann tatsächlich - egal ob mit gewaschenen oder mit ungewaschenen Händen - die Toilette wieder verlassen würde, dann wüsste er immer noch nicht, was er hier im Subway arbeiten sollte. Schön, dass die Unvernunft ab und zu noch eine amüsante Seite hat.
Jetzt, wo ich so tiefgründig auch den hintersten Winkel dieses kleinen Subway in Las Vegas erkundet habe, mache ich mich auf den langen Weg zum Grand Canyon. Der führt zuerst einmal über ein richtig kompliziertes System von Highways durch Las Vegas und dann hinaus in die Wüste. Was für ein schroffer Gegensatz! Gerade eben noch bin ich in Las Vegas an protzigen Palästen und an glänzendem Glas in grossen Grünanlagen vorbeigefahren, und nur wenig später fahre ich hier durch eine heisse Wüste aus schroffen, graubraunen Felsen, die die sich wie feindliche Riffe dem Besucher drohend entgegenstellen, wüst und unwirtlich. So etwas muss der Sänger des ersten Schöpfungsberichts vor Augen gehabt haben mit seinem „... und die Erde war wüst und leer,..." ein richtiges Tohuwabohu.
Schon nach einer Stunde überquere ich beim Hoover Dam die Grenze zu Arizona. Es dauert aber noch viele Stunden, bis ich endlich bei der Ausfahrt bin, die zum Südrand des Grand Canyon führt. Endlich weg vom eintönigen Highway suche ich zuerst einmal eine Tankstelle und brauche dann eine kurze Pause, um etwas zu essen und mich wärmer anzuziehen. Die Gegend hier liegt deutlich höher als Las Vegas, und weil es auch schon spät am Nachmittag ist wird es hier kühler. Noch etwa 40 Meilen sind es bis zum Grand Canyon. Die Strasse verläuft fast durchgehend schnurgerade, und ich bin nicht der einzige, der sie etwas ungeduldig im gestreckten Galopp durchquert. Beim Eingang zum Park ist dann aber Schluss mit dem schnellen Fahren. Hier laufen die Wildtiere unbekümmert auf der Strasse herum. Hier sehe ich auch zum ersten Mal einen jungen Elk. Es gibt sie also doch, die Elks hier in Arizona.
Beim Absteigen auf dem Parkplatz merke ich, wie klamm ich bin. Die Kälte hat mich also schon ein wenig gepackt. Ich ziehe den Helm aus, nehme die Kamera hervor und suche den Zugang zum Südrand. Nach ein paar hundert Metern bin ich da.
Was ich da sehe, das haut mich um. Der Grand Canyon, das ist ein ganz gewaltiges Spektakel der Natur. Unglaublich riesige Felsformationen, geschichtet in rot-gelben Farben, in Formen, die an Kathedralen, an Türme oder einfach an unglaubliche Macht und Kraft erinnern, soweit man nur schauen kann. Ich glaube nicht, dass mich ein Naturschauspiel je so beeindruckt hat. Hier kommen mir Tränen. Das ist ganz gewaltig.
Wenn ich mir die Bilder noch einmal anschaue und diese Musik hier höre, dann komme ich noch einmal in Kontakt mit diesem erschütternden Eindruck von Grösse und Weite, spüre noch einmal die abendliche Kälte auf der Haut, werde noch einmal von der flachen Abendsonne geblendet, werde noch einmal von dieser mächtigen Stille tief beeindruckt, und es kommt mir vor, wie wenn sich hier ein kleiner Teil vom Anfang der Welt zeigen würde.
Eine ganze Weile laufe ich mal hin, mal her oder stehe einfach da. Ein anderer Tourist steht neben mir. Wir sind uns einig: „Someone has made a good job“. Ein Paar, so gegen siebzig, sitzt auf einer Bank, zwar nebeneinander, aber doch beide für sich. Die schauen, schauen wieder weg, denken über etwas nach, schauen wieder. Wenn ich noch einmal hierherkomme, dann werde ich zu einer früheren Tageszeit hier sein, und ich werde es auch so machen wie diese älteren Leute.
Schliesslich kann ich nicht mehr aufnehmen. Ausserdem wird es langsam dunkel und kalt, und ich muss noch fast zwei Stunden fahren. Auf dem Parkplatz ziehe ich mich warm an und mache mich dann auf den Weg, dem Südrand entlang, an den vielen Aussichtspunkten vorbei, nach Page, zu meiner Unterkunft.
Noch einmal halte ich an, um ein Bild des ganz jungen Grand Canyon zu machen und eines von der Aussicht auf die rote Region, wo ich vor ein paar Wochen schon einmal war.
Bei der Einmündung auf den Highway tanke ich noch einmal. Ich bin hier im Indianergebiet, daher frage ich diesmal nicht nach Bier. Ein alter Indianer mit seinem alten Pickup hält neben mir an der Tankstelle: „Pretty cold, he?“ „It looks like so.“ Er lacht.
Dann kommt der Highway nach Page. Es wird dunkler und ist schliesslich finster und kalt. Diesmal habe ich mich rechtzeitig warm angezogen. Die Kälte macht mir heute nichts aus. In Page angekommen besorge ich mir nur noch ein Picknick zum Abendessen. Ich will bloss noch eine warme Dusche, etwas picken und dann ab unter die Decke. Page liegt übrigens nicht mehr im Indianergebiet. Hier kriege ich mein Feierabendbier.
Lieber Martin
Der Grand Canyon beeindruckt mich auch nur durch deine wunderbaren Bilder. Ich bin sehr berührt wie persönlich und intensiv dein Reisebericht ist und wünsche dir, dass du dir alle Eindrücke und Erlebnisse im wahrsten Sinne des Wortes “einverleiben” kannst.
Ich habe im Gegenzug eine wunderbare Woche mit deiner Herzdame in Marocco verbracht und bin gestärkt nach Hause gekehrt.
Herzlich Astride
Vielen Dank für deinen liebevollen Kommentar, Astride!
Herzliche Grüsse
Martin
Lieber Martin
Da habe ich also den Chorgesang angehört und dabei deine eindrücklichen Bilder angeschaut. Obwohl einige tausend Kilometer weit weg von dem Canyon, bin ich in die Bilder und den Chorgesang tief versunken. Da hat jemand wirklich einen sehr guten Job gemacht…und er sah, dass es gut war. Danke für die Bilder und den Ton.
Herzliche Grüsse
Karl