Salt Lake City – Moab

Gestern Abend habe ich ein ziemliches Durcheinander im Kopf gehabt. Trotzdem finde ich heute Morgen meinen Plan immer noch richtig: Wenn die BMW-Werkstatt in Sandy heute um 08.30 Uhr aufmacht will ich mit Sack und Pack dort sein. Die Leute dort sollen sehen, dass ich lediglich einen neuen Reifen brauche und dann gleich weiterfahren will. Ob das auch tatsächlich klappt? Ich weiss es nicht und kann den Tag so nicht planen. Was, wenn die in Sandy keine passenden Pneus an Lager haben, oder wenn sie keine Zeit haben? Werde ich hier wieder so eine unendliche Geschichte erleben wie letzte Woche bei Ozzie in Chico?

Um halb acht stehe ich mit meinem Gepäck an der Rezeption, gebe den Schlüssel ab und bestelle ein Uber-Taxi. Wie schon gestern klappt das tadellos, und schon nach drei Minuten ist der Fahrer da. Er heisst Spencer, ist etwa 5 Jahre älter als ich, und spricht etwas Deutsch. Spencer war Mitte der Siebzigerjahre in Norddeutschland als Mormonenmissionar unterwegs. Da hat er sich Mühe gegeben und etwas Deutsch gelernt. Spencer ein begnadeter Erzähler und ein spannender Gesprächspartner. Wenn er spricht, dann tut er das ganz langsam und deutlich, aber sehr authentisch und so, dass ich ihm sehr gerne zuhöre. Und was der alles weiss. Die Mormonenmission in Norddeutschland habe zu seinen Zeiten aus 160 Missionaren bestanden. Die Arbeit sei unglaublich hart gewesen. Sie hätten eine Erfolgsrate von 0.1% gehabt. Die Leute in Norddeutschland seien freundlich und zugänglich gewesen - solange man mit ihnen nicht über die Mormonen geredet habe, lacht er. Aufgrund der tiefen Quote vermutet er, dass die Norddeutschen ganz treue und verpflichtete Lutheraner und Katholiken seien. Mir kommt die Kirchenstudie Schweiz 1990 in den Sinn. Damals gaben in einer repräsentativen Umfrage 96 % der befragten Schweizer an, sie würden sich sich als Christen verstehen. Ich habe seinerzeit einen Vortrag zum aktuellen Christentum in der Schweiz halten müssen und diese Zahlen der ökumenischen Gemeinde präsentiert. Das hat vielleicht einen Entrüstungssturm gegeben. Dabei liegt darin die absolut simple und plausible Antwort auf die Frage, warum Bekehrungsversuche und Evangelisationen in der Schweiz praktisch keinen Erfolg haben. Wenn sich 96% der Bevölkerung als Christen verstehen, dann führt jeder Versuch, die zum Christentum bekehren zu wollen, ins Leere. Sie sind ja schon Christen, sind schon irgendwie „gläubig". Ein Versuch zur Bekehrung wird da fast zwangsläufig als Frechheit aufgenommen. Spencer lacht und stimmt zu. Bei den Mormonen ist es wie bei den Schweizer Freikirchen: Sie wissen, dass ihre Bekehrungsversuche praktisch keinen Erfolg haben, halten aber trotzdem daran fest. Die Evangelisationen und Missionen sind Rituale geworden, deren Sinn in der Durchführung liegt, und nicht im Erfolg.
Wir kommen auf Amerikaner, Deutsche und Schweizer zu sprechen. Spencer weiss, dass in den Gründungsjahren der USA die Abstimmung über die offizielle Landessprache nur mit einer Stimme Unterschied zugunsten von Englisch statt zugunsten von Deutsch ausgefallen ist. Hätte damals nur ein Abgeordneter anders gestimmt, dann würde heute in Neu York deutsch gesprochen, auch am Breitweg. Schrecklich, was das für die Musikentwicklung bedeutet hätte. Blues auf deutsch? Statt „I aint got no money“ würde es „Ich habe kein Geld“ heissen? Lieber nicht, oder? Im Unabhängigkeitskrieg waren sehr viele Deutschsprachige auf der Seite der Unabhängigkeitsbewegung, während viele Englischsprachige eher auf der Seite des Königreichs standen. Viele Engländer waren offenbar nach der nach Unabhängigkeitserklärung als Royalisten verpönt und sind dann wieder aus den USA weggegangen.
Auch die Teilnahme der USA auf der Seite der Alliierten im Ersten wie auch im Zweiten Weltkrieg sei weit weniger selbstverständlich gewesen als man heute annehmen würde. Beide Male habe der Anlass für den Kriegseintritt der USA gegen Deutschland darin bestanden, dass die Deutschen ein Schiff versenkt hätten, das viele Amerikaner an Bord gehabt hätte, die dabei umgekommen seien. Aber beide Male seien die versenkten Schiffe in deutschen Gewässern angegriffen worden. Die Briten hätten beide Male gewusst, dass das Schiff in deutsche Gewässern ist und dass die Deutschen angreifen würden, hätten aber nichts unternommen, um das Schiff der die Amerikaner zu warnen oder zu schützen. Dadurch hätten die Briten die Amerikaner beide Male als Verbündete gewonnen. Hitler habe vorher offenbar die begründete Hoffnung gehabt, dass er die USA auf seine Seite kriegen könnte.
Woher weiss Spencer so viel über geschichtliche Zusammenhänge? Überhaupt habe ich das Gefühl, hier im Uber Taxi neben einem sehr gebildeten Mann zu sitzen. Aber Spencer hält sich da bedeckt. Well, meint er, wer die Geschichte etwas kennt kommt weniger in Gefahr, die Fehler zu wiederholen, die andere schon einmal gemacht haben. Mir klingt das etwas zu sehr nach einer Plattitüde, abgesehen davon, dass sich schon viele kluge Köpfe dieselben heiss diskutiert haben über die Frage, ob das überhaupt richtig sei. Aber jetzt ist es 08.15 Uhr, und wir kommen bei der BMW-Werkstatt in Sandy an. Vielen Dank, Spencer, die Fahrt mit dir war ein toller Kontrast zum Rest der letzten zwölf Stunden.

Nachdem ich mich von Spencer verabschiedet habe stelle ich mein Gepäck zu einem halbwegs ordentlichen Haufen zusammen. Da fährt gerade eine andere BMW zu. Es ist ein Kunde, nicht ein Mitarbeiter von BMW, ein sympathischer Kollege, so etwa Ende 30. Er heisst Ryan. Ein Freund von ihm ist für zwei Monate in Schottland und hat ihm für diese Zeit seine BMW überlassen.  Es ist eine BMW 800, eine kleinere und jüngere Schwester von Olga. Ryan ist ganz begeistert. Er selber besitzt einen Kawasaki Cruiser, fährt aber nie so weit damit, weil er sich nach einer Weile fahren nicht mehr wohl fühlt, und weil er ihm mit der Zeit auch zu laut ist. Er will wissen, was ich hier tue, und ist ganz begeistert von meinem Alaska-Projekt. Er hat im letzten Jahr seine Schwester in Anchorage besucht und schwärmt von Alaska, vor allem von der Landschaft und von den Tieren, die man da zu sehen bekommt. Ryan arbeitet bei Oracle in Salt Lake City als Consultant für Service-Software. Da haben wir ja einige gemeinsame Themen und einen Haufen zu besprechen, solange noch niemand von BMW da ist. Ryan kann ganz ausgezeichnet in Kontakt treten, fragen, zuhören, teilnehmen und selber erzählen, ein richtig grundsympathischer Typ. Irgendeinmal möchte er auch eine Europarundreise machen, gar nicht unbedingt mit dem Motorrad. Etwas möchte er da noch wissen: Wie macht ihr das in Europa eigentlich mit den vielen verschiedenen Sprachen? Ihr betreibt da ja einen ungeheuren Aufwand. Lernt ihr eigentlich alle gegenseitig die anderen Sprachen, oder redet ihr Englisch miteinander?

Die Leute von der BMW-Serviceabteilung sind da. Ryan und ich, wir werden abgeholt, obwohl wir uns noch gar nirgends angestellt haben. Es sind sogar zwei Leute von BMW da, so dass wir beide gleichzeitig bedient werden. Es dauert nicht lange, da beginnt hier das gleiche Spiel wie bei BMW in Santa Clarita: Name, Vorname, Telefon. Als mein Kundenbetreuer auch noch meine Schweizer Adresse, aufnehmen will ruft ihm ein Kollege etwas zu. Stimmt, Kunden mit Schweizer Adresse machen keinen Sinn in der Kartei von BMW Utah. Jetzt geht es ganz schnell, und nach drei Minuten sind Formalitäten erledigt. Ich wusste doch, dass das so geht. Wir schauen uns Olga an und suchen dann im Ersatzteillager einen neuen Pneu aus. Dann erklärt mir mein Betreuer, wie es jetzt weitergeht: Wenn du die Seitenkoffer abmontierst kann der Mechaniker nachher den Pneu wechseln. Brauchst du Hilfe? Dann haben wir dort hinten eine Warteecke. Da gibt es Wasser, Kaffee, Wifi, und dort kannst du warten, bis der Pneu gewechselt ist. Ich melde mich, sobald dein Motorrad wieder fahrbereit ist, OK? Wird das heute Vormittag oder heute Nachmittag sein? frage ich schüchtern zurück. Mein Betreuer lacht: Spätestens in einer Stunde bist du wieder fahrbereit. Wow, so kann es also auch gehen. Mal sehen.
Ryan kommt noch einmal vorbei, um sich zu verabschieden. Und er will wissen, was für ein Motorrad ich zu Hause fahre. Ich habe ihm erzählt, dass ich mit Olga zwar sehr zufrieden bin, aber halt immer noch meine Maschine zu Hause am besten finde. Die surrt leise vor sich hin, läuft ganz ruhig, hat jede Menge Kraft und ist sehr bequem. Seit Ryan die BMW seines Freundes fährt hat er gemerkt, dass er mit der Maschine, die er seit acht Jahren fährt, gar nicht zufrieden ist. Er sitzt tief und unbequem (und ist etwa eins neunzig gross), die Maschine ist laut, ruppig, und er hat das Gefühl, nicht voranzukommen. Mein Motorrad zu Hause heisst Honda Paneuropean ST 1300, das weiss ich auswendig. Tschüss Ryan!

So, Olga ist in Arbeit, und ich richte mich in der Warteecke ein. Es dauert einen Moment bis Strom, Notebook, Maus und Wifi bereit sind. Die haben hier ein superschnelles Netz. Ich kann alle Bilder hochladen und noch die aufwändige Softwarewartung des Blogs machen. Dann komme ich endlich zum schreiben. Aber da steht schon wieder mein Betreuer neben mir. Olga ist fertig. Das hat vielleicht 20 Minuten gedauert. Wahnsinn! Jetzt bekomme ich ein Durcheinander, weil ich selber noch gar nicht fahrbereit bin. Ich muss zuerst die Strecke für heute planen. Zuerst fahre ich noch einmal nach Norden zum Salzsee. Mich lachen zwar alle aus und sagen, da gäbe es gar nichts zu sehen. Ich weiss das. Alle Kommentatoren und auch die Reiseführer erzählen mehr oder weniger ungeschminkt, dass es da eigentlich kaum etwas zu holen gibt. Aber ich will den Salzsee sehen, und dafür fahre ich jetzt einfach noch einmal eine halbe Stunde nach Norden und dann wieder zurück. Nach dem Salzsee geht es dann direkt und ohne jeden Schnörkel nach Moab und vorher noch in den Arches Nationalpark. Patrick, einer der drei Texaner in Hesperia, hat mir das sehr empfohlen. Der Streckenplan steht, mein Gepäck ist geladen, ich habe mich bedankt und verabschiedet, und dann geht es los.

Der grosse Salzsee

Meine Fussspuren im Salzsee

Der Salzsee ist genauso attraktiv, wie ich es erwartet habe. Ein etwas schmutziges Weiss breitet sich bis zum Horizont aus und stinkt etwas. Trotzdem finde ich die unglaubliche weisse Weite eindrücklich. Geschätzte 500 Mia Tonnen Salz sollen in diesem Salzsee liegen, in einer Konzentration von stellenweise bis zu 25%. Das war’s auch schon mit meinem Besuch beim grossen Salzsee.

Auf der Fahrt zurück nach Süden sehe ich riesige Wahlplakate für Gary Herbert, der sich offenbar erneut zur Wahl als Gouverneur von Utah stellt. Über 900'000 neue Jobs soll er geschaffen haben. So ein Quatsch. Dass die Politik Jobs schaffen kann, daran glaube ich nicht so recht. Die Politik ist ja wirtschaftlich gar nicht aktiv, da kann sie auch keine Stellen schaffen. Sie kann Beschäftigungsprogramme schaffen, aber das sind nicht Stellen im eigentlichen Sinn. Genau genommen nimmt die Politik ja auch nicht in Anspruch, direkt Stellen geschaffen zu haben. Stattdessen setzt sie sich zur Aufgabe, die Rahmenbedingen so zu verbessern, dass neue Jos entstehen können. Das ist eigentlich eine gute Idee. Wenn es nicht sein muss, dann muss man sich ja nicht gegenseitig das Leben schwermachen. Aber entstehen dadurch wirklich neue Jobs? Das ist doch Geschwätz. Das berechtigte Interesse eines Unternehmens ist die Erwirtschaftung von Gewinn. Dabei können neue Jobs entstehen. Aber dann ist die Schaffung und Besetzung von Jobs eine Notwendigkeit und nicht ein Ziel, sie ist ein Muss, quasi ein Nebenprodukt. Ich mag dem Geschwätz von Gouverneur Gary Herbert, aber auch dem, wie es jeweils in der Arena daherkommt, gar nicht mehr zuhören. Es geht doch um Gewinn. Warum auch nicht? Dazu kann man doch ehrlich stehen. Noch schöner ist es, wenn die Gewinnerwirtschaftung auch einigermassen fair gestaltet wird. Mein Schlummervater kommt mir in den Sinn. Heinz Müller war selbständiger Schreiner. Einmal hat er mir erzählt, wie sein Cousin zu ihm gekommen sei und Tisch und Stühle habe offerieren lassen. Heinz hat die Offerte gemacht und den Preis genannt. Da habe der Cousin gesagt: Und wie ist der Preis für mich? Wir sind schliesslich miteinander verwandt. Da habe Heinz Müller geantwortet: Was heisst das? Willst du mir mehr geben, weil wir verwandt sind?

Auf der Fahrt nach Moab gibt es zwar immer wieder einmal etwas zu sehen. Vom Gefühl her ist die Etappe heute aber eine Traverse. Ich will auf dem kürzesten Weg nach Moab. Heute ist ein Kopfwehtag. Ich habe einige Male Konzentrationsschwierigkeiten und muss dementsprechend viel anhalten, trinken, und heute auch noch etwas Gymnastik machen. Das braucht Zeit. Für den Besuch des Arches Nationalparks reicht es heute nicht mehr. Dort fahre ich morgen hin.

Price River Valley

Die Strecke nach Moab führt durch das enge Tal des Price River. Unten in der Talsohle fliesst der Fluss, etwas weiter oben ist eine doppelspurige Bahnlinie, noch weiter oben ist die Route 191. Wozu es in diesem entlegenen Gebiet wohl eine zweispurige Bahnlinie braucht? Am Ende des Tales hat es einen Rastplatz mit Informationstafeln. Dort wird das erklärt. Im Tal des Price River und noch in weiteren Gebieten von Utah wird Kohle abgebaut. Im zweiten Weltkrieg wurde Utah zum wichtigsten Kohlelieferanten der USA. Noch heute wird Kohle in grossem Stil abgebaut und zu grössten Teil vor Ort verbrannt, um damit Strom herzustellen. In dem Sektor ist Utah offenbar führend. Der Kohleabbau im grossen Stil wurde aber erst möglich und rentabel, als die Eisenbahnlinie von Denver nach Salt Lake City gebaut wurde. Erst dadurch konnte die Kohle effizient zur verbrauchenden Industrie transportiert werden.

Ebene vor Moab 1

Ebene vor Moab 2

Ebene vor Moab 3

Nach dem Price River Valles geht es durch eine weite und lange Ebene bis nach Moab. Um 17 Uhr treffe ich ein. Es ist ein ziemlich schnöseliges Motel. Ein Lümmel am Empfang, kein funktionierendes Wifi im Zimmer, eine knapp funktionierende Dusche und ein Zimmerservice, der am Abend um 17.00 Uhr noch arbeitet und dadurch den neu eintreffenden Gästen den Weg versperrt. Gut, vielleicht habe ich Kopfweh und vielleicht auch ein ganz kleines Bisschen schlechte Laune. Aber in Moab hat bereits jetzt im April die Vorsaison begonnen. Mein Motel ist heute Abend voll belegt und muss sogar Gäste abweisen. Viele Deutsche sind hier, die mit kleinen Kindern unterwegs sind. Ich gehe jetzt zuerst einmal unter die Dusche und dann lege ich mich für einen Moment hin. Vielleicht vergeht das Kopfweh ja dann. Morgen will ich den Arches Nationalpark, wenn es reicht auch noch den Canyonland Nationalpark besuche. Und dann geht es ab nach Colorado.

Reiseroute am Mittwoch, 20. April 2016

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