Jackson – Yellowstone

Die Nacht hier in Jackson war angenehm warm und ruhig. Heute Morgen ist es zwar draussen immer noch kalt, aber der Himmel ist blau und die Sonne scheint. Mein Motel hier bietet kein Frühstück an und in meinen Vorräten findet sich auch nichts Passendes. Also mache ich mich auf ins Dorf und halte Ausschau nach einem Café. Nach ein paar Schritten sehe ich auf der anderen Strassenseite einen Mann, der mir den Eindruck macht, als ob auch er unterwegs zum Frühstück sei. Also folge ich ihm in einiger Distanz und finde so ein ganz nettes Restaurant, das von zwei sehr sympathischen Frauen geführt wird. Wahrscheinlich sind beide zugewandert, denn die eine spricht so langsam und deutlich, dass ich alles verstehe, und bei der Anderen ist ein richtig harter Akzent mit rollendem R und knackigen Gutturallauten zu hören.

Nach einem ausgezeichneten, gesunden Frühstück bleibe ich noch etwas sitzen und überlege mir, wo die Fahrt heute hingehen soll. Mein ursprünglicher Plan hatte vorgesehen, über die Route 191 direkt von Süden her in den Yellowstone National Park zu fahren. Vor einer Woche hatte mir nämlich ein Kollege erzählt, dass dies die schönste Strecke sei, die in den Yellowstone National Park führt. Darum bin ich auch über Saratoga hierher nach Jackson gefahren. Während der Fahrt nach Jackson gestern habe ich aber festgestellt, dass die Route 191 in Richtung Yellowstone immer noch unter Wintersperre steht. Das gefällt mir zwar gar nicht, aber ich werde wohl oder übel den Umweg über Idaho nehmen und den Yellowstone National Park von Westen her anfahren müssen.

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Die Temperatur pendelt auch heute so um die Nullgradgrenze herum, aber so lange die Strasse trocken ist und es ab und zu ein Café gibt, wo ich mich bei einer Tasse Tee aufwärmen kann, macht mir das nichts aus. Gegen zehn Uhr starte ich in Jackson, fahre zuerst nach Westen, komme in den Genuss einer kurzen Pässefahrt und biege dann in Idaho ab nach Norden zum Westportal des Yellowstone National Park. Idaho ist Landwirtschaftsland. Über die leicht hügelige Gegend hier erstrecken sich riesige Felder, die mit einer aufwändigen und wahrscheinlich auch teuren und modernen Infrastruktur bewirtschaftet werden. Etwa zweieinhalb Stunden bin ich von Jackson nach Yellowstone West unterwegs und sehe dabei vorwiegend gepflegte Felder, mobile Bewässerungsanlagen, neue Traktoren und grosse, neue Landwirtschaftsmaschinen. Mein Weg führt mich durch Idaho, weil meine ursprünglich geplante Strecke immer noch unter Wintersperre steht. Darum habe ich von der Strecke und von der Landschaft hier eigentlich nichts erwartet und bin jetzt angenehm überrascht von dem, was ich zu sehen bekomme.

Die Fahrt zum Yellowstone ist angenehm und stellt keine grossen Ansprüche an meine Aufmerksamkeit. Daher habe ich Zeit, um mir unterwegs meine nächsten Etappen zurecht zu legen: Morgen fahre ich nach Missoula und bleibe dort drei Nächte. Einen Tag brauche ich, um wieder ganz warm zu werden. Den zweiten Tag brauche ich für einen Ausflug noch weiter nach Norden zum Glacier National Park. Wenn ich dann von Missoula aus weiterfahre möchte ich dann wieder vorwiegend über schöne Motorradstrecken fahren. Deshalb überlege ich mir, zuerst nach Westen bis Lewiston, dann in den Süden nach Baker City, dann in zwei Etappen wieder nach Westen in den Mount Hood Nationalpark und dann in zwei Etappen wieder nach Norden in den Mount Rainier Nationalpark und den North Cascade Nationalpark zu fahren.

In West Yellowstone angekommen brauche ich zuerst etwas Warmes. In einem Bistro bekomme ich einen Tee und etwas zu essen, das auf der Karte zwar ganz attraktiv ausgesehen hat, de facto aber ein Burger in einer französischen Baguette ist. Das Beste daran ist, dass es wenigstens warm ist. Nachdem ich mich wieder einigermassen aufgewärmt habe will ich noch schnell nachschauen, ob es SMS oder WhatsApp-Nachrichten gegeben hat. Dabei stelle ich fest, dass die Jackentasche, in der mein Telefon sein sollte, leider leer ist. Offenbar habe ich mein Mobile Phone in Jackson im Motel liegen lassen. Das Motel in Jackson kann das bestätigen und teilt mir freundlicher weise mit, dass mein Mobile bei ihnen an der Rezeption für mich zum Abholen bereit liegt. Ich weiss zwar noch nicht, wann ich wieder nach Jackson fahren werde, aber es ist sonnenklar, dass ich da noch einmal hin muss. Beim Besitzer des Bistros hier frage ich nach, ob er wisse, ab wann die Route 191 vom Yellowstone National Park in Richtung Süden wieder befahrbar sei. Ich hoffe nämlich, dass ich über diesen Weg viel schneller in Jackson sein kann und nicht noch einmal dieselbe Strecke über Idaho zurückfahren muss. Der Besitzer des Bistros winkt aber ab. Die Strasse wir erst in einem Monat, also etwa Mitte Mai wieder offen sein. Das soll mich aber nicht weiter stören, denn die Route 191 durch den Park sei zwar die deutlich kürzere Strecke als der Umweg über Idaho, aber die Fahrt dauere deutlich länger.

Heute höre ich offenbar bei allen Leuten, mit denen ich zu tun habe, einen ausländischen Akzent. Das war bei den beiden Damen im Café in Jackson so, und auch beim Wirt des Bistros hier höre ich einen Akzent. Dem Bistrobesitzer ist es offenbar mit mir gleich ergangen. Noch bevor ich etwas sagen kann fragt er, ob ich aus Deutschland sei. Nein, ich bin aus der Schweiz. Da strahlt er und fährt auf Französisch weiter, weil er sicher ist, dass die Schweizer ja auch Französisch sprechen. Das macht mich kurz etwas sprachlos, so dass ich nicht gleich antworte und er etwas enttäuscht nachfragt: Oder etwa nicht? Eigentlich etwa nicht, aber ich gebe mir Mühe, französisch zu sprechen. Ich brauche einfach einen Augenblick, um von der einen Fremdsprache in die andere umzuschalten und frage ihn dann, wie er denn hierhergekommen sei. Seit zwei Jahren ist er hier und führt dieses Bistro. Vorher hat er sieben Jahre lang in der Dominikanischen Republik gelebt und noch vorher zehn Jahre in Marokko. Er ist offenbar ein klassischer Tourismusnomade. Früher, als er noch jung war, da ist er in Frankreich Motocross gefahren und war offenbar ein Champion. Ich vermute, dass er meint, dass er in seiner Kategorie französischer Meister gewesen sei. Chapeau! Er fährt auch heute noch eine Motocross-Maschine, eine KTM. Von seinen Offroad-Fahrten hier in der Region schwärmt er. Ich will noch von ihm wissen, was die beste Route hier im Park sei. Da schmunzelt er nur. So gross ist die Auswahl ich nämlich gar nicht, weil noch ganz viele Strassen im Park Wintersperre haben. Er empfiehlt mir nach Süden zu fahren. Dort sind die Geysire, und dort bekommt man ganz bestimmt etwas Schönes zu sehen. Das ist ja vielleicht eine Pleite mit diesem Yellowstone National Park. Zuerst sind die Zufahrten zum Park gesperrt und dann auch noch die Strassen im Park. Wohlverstanden, so eine Wintersperre kann ja durchaus Sinn machen. Es wäre einfach schön, wenn es über die Strassenverhältnissse vernünftige Information geben würde.

Elche vor dem Yellowstone National Park

Jetzt, wo ich wieder etwas aufgewärmt bin, verabschiede ich mich von dem freundlichen Bistro-Besitzer und mache mich auf zum Yellowstone National Park. Ich bin sehr gespannt, was mich da erwartet. Schon auf der Zufahrt zum Ort Yellowstone West, etwa 15 Meilen von hier, habe ich von weitem zwei Elche am Fluss gesehen und fand das vielversprechend. In Verbindung mit dem klingenden Namen Yellowstone weckt das bei mir grosse Erwartungen für meine Fahrt durch den Park. Da sehe ich aber zuerst einmal für längere Zeit nichts Besonderes, keine Tiere, keine Geysire, keine bemerkenswerten Landschaften, nichts.

Einzelner Bison

Bisons bei der Flussdurchquerung

Junger Bison will saugen

Das ändert sich aber, als ich auf einen Rastplatz zufahre, wo etwa sechs Bisons friedlich auf einer Wiese direkt neben der Strasse grasen. Es ist das erste Mal, dass ich Bisons in freier Wildbahn sehe und so nahe an sie herankomme. Das sind sehr eindrückliche Tiere. Von ihnen geht gleichzeitig eine grosse Ruhe und eine gefährlich anmutende Kraft aus. Nur wenig später kann ich beobachten, wie eine Herde von etwa 20 Tieren einen Fluss überquert. Der Leitbulle geht voraus und es sieht so aus, als ob er den besten Weg durch den Fluss sucht. Bis zur Mitte seines Körpers steht er im Wasser. Wahrscheinlich tastet er mit seinen Hufen den Flussgrund ab und erkundet ganz langsam, Schritt für Schritt, die Furt. Die anderen Tiere folgen ihm sogleich. Ganz langsam zieht die Herde so durch den Fluss. In der starken Strömung sind die stärkeren und die schwächeren Tiere der Herde gut zu erkennen. Immer wieder schiebt sich eines der stärkeren Tiere flussabwärts neben eines der schwächeren Tiere und verhindert so, dass das schwache Tier abtreiben würde, wenn es ausrutschen oder vom Wasser mitgezogen würde. Genau gleich macht es auch ein Muttertier mit seinem jungen Kalb. Auf der anderen Seite angekommen dauert es nicht lange, bis das Kalb wieder seine Sprünge macht und bei der Mutter saugen will.

Geysir

Zerstörte Bäume

Nach den Bisons gibt es wieder längere Zeit nichts Besonderes zu sehen. Es ist früher Nachmittag. Um diese Zeit kann man hier im Park eigentlich keine Tiere beobachten. Aber immer öfter sind Stellen zu sehen, wo unvermittelt Dampf aus der Erde steigt. Ich bin offenbar in der Region der Geysire. An einigen Stellen sprudelt dann auch wirklich heisses Wasser aus der Erde hervor. Rings um diese heissen Quellen herum sind die Vegetation und die Erde verbrannt. Das heisse Wasser hinterlässt eine farbige Spur und einen etwas eigenartigen Geruch. Ein grösserer Geysir spuckt meterhohe Fontänen in den Himmel. Der berühmteste und grösste der Geysire hier hat sogar einen Namen: Old Faithfull. Der Weg zu Old Faithfull ist extra ausgeschildert. Wie bei einer Autobahnausfahrt gibt es eine grosse Abzweigung von der Parkstrasse, die über eine Brücke zu riesigen Parkplätzen und grossen Hotel- und Restaurantanlagen führt. Etwa zehn Minuten kurve ich in der Anlage herum und suche den Zugang zum Geysir, bis der Moment kommt, wo ich etwas verärgert abbreche. Ich ärgere mich über mich selber, denn eigentlich bin ich gar nicht hergekommen, um zuzuschauen, wie hier Dampf und Wasser aus dem Boden spritzen. Ich habe mir zwar Mühe gegeben, ein spannendes Bild von einem Geysir einzufangen, aber wenn ich ehrlich bin, dann spricht mich die ganze Sache hier gar nicht so an. Ich lasse Old Faithfull unbesucht und kehre um.

Einzelner Bisonbulle

Murmeltier

Fluss im Yellowstone National Park

Auf der Fahrt zurück zum Parkausgang fahre ich an einem einzelnen Bison vorbei. Das Tier ist riesig, deutlich grösser als die anderen Bisons, die ich hier gesehen habe. Es grast ganz alleine auf einer kleinen Lichtung und interessiert sich überhaupt nicht für mich, als ich anhalte und mit der Kamera herumlaufe. Das ist mir übrigens sehr recht. Nur wenige Meter weiter sitzt quasi als Kontrastprogramm auf einem Felsen ein kleines Tier das aussieht wie ein Murmeltier.
Die Bisonherde, die ich heute als Erstes gesehen habe, grast immer noch in der Umgebung des Rastplatzes. Ein kurzes Stück fahre ich noch auf einer kleinen Strasse dem Madison River entlang, dann bin ich schon wieder beim Parkausgange und verlasse den Yellowstone National Park.

Im Dorf West Yellowstone beziehe ich mein Zimmer. Ein freundlicher junger Mann empfängt mich im Motel, fragt nach meinem Woher und Wohin und gibt mir ein paar Ratschläge für meinen Aufenthalt hier in West Yellowstone. So nebenbei erwähnt er, dass er ein grosser Offroad-Fan ist und ab und zu mit seiner KTM durch die Wildnis ausserhalb des Parks fährt. Ob er das wohl zusammen mit dem französisch-stämmigen Bistro-Besitzer tut? Nein, den kennt er gar nicht. Er weiss auch nicht, dass es noch andere Offroad-Fahrer mit einer KTM hier gibt.
Das Motel hier ist sehr gut eingerichtet, preiswert und sauber. Hier kann ich endlich wieder einmal meine Wäsche waschen. Zwischen zwei Waschgängen sitze ich in meinem Zimmer und denke über den Tag heute nach. Die meisten Strassen hier im Yellowstone National Park stehen noch unter Wintersperre, und ich habe dazu keine vernünftigen Informationen gefunden. Auf meinem kurzen Abstecher in den Park habe ich Bisons beobachten können und bin sehr angetan von diesen Tieren. Aber eigentlich ist es nicht die richtige Jahreszeit für Tierbeobachtungen, weil die Tage immer noch recht kurz sind und es während den Dämmerungszeiten, den besten Zeiten für Tierbeobachtungen, immer noch sehr kalt ist. Mir den Geysiren im Park habe ich mich auch nicht so recht anfreunden können. Ich weiss gar nicht so recht, warum das so ist, aber so ist es nun mal. Und dann ist da noch die Sache mit meinem Mobile Phone, das ich in Jackson habe liegen lassen und noch holen muss. Genau genommen läuft es im Moment nicht richtig gut und ich bin eher etwas unzufrieden.
Das bringt mich zu der Frage, wie es mit meiner Reise weitergehen soll. Was könnte ich während meinem restlichen Aufenthalt hier in den USA noch sehen wollen, und welche Kriterien könnten für meine weitere Reiseplanung massgeblich sein? Dabei wird mir etwas klar: Ich werde meine Planung nicht länger an den Nationalparks hier in den nördlichen Staaten der USA ausrichten. Wegen dieser Parks bin ich doch gar nicht hergekommen. Den Plan von heute Morgen, zu den Parks in Oregon und Washington zu fahren, werfe ich über den Haufen. Ich weiss zwar noch nicht, was ich stattdessen tun werde, aber zu den Parks im Norden werde ich nicht hinfahren.
Was ich aber jetzt schon weiss: Meine Fahrt morgen wird ziemlich lange dauern. Morgen fahre ich zuerst südwärts nach Jackson und hole dort mein Mobile Phone ab. Dann fahre ich vielleicht über den Highway nordwärts nach Missoula. Das könnte ein guter Ausgangspunkt für Touren in der Region sein. Ausserdem scheint Missoula auch eine interessante Stadt zu sein. Den Besuch im Glacier Park streiche ich jedenfalls. Vielleicht werde ich in Missoula etwas Inspiration finden für die weitere Planung.

Auf der Fahrt durch den Yellowstone National Park heute habe ich oft an eine Geschichte denken müssen, die sich in dieser Region hier abgespielt hat. Als ich mir zum ersten Mal überlegt habe, wie ich von Colorado aus zum Yellowstone fahren könnte, bin ich auf eine interessante Strecke gestossen, die „Chief Joseph Highway“ heisst. Das hat mich interessiert, und über die Frage, wer wohl dieser Chief Joseph gewesen sein könnte, bin ich auf seine Geschichte gestossen:
Chief Joseph war ein Häuptling der Nez Perce Indianer. Sein Vater Old Chief Joseph, ebenfalls Häuptling der Nez Perce, hatte um 1850 herum mit der amerikanischen Regierung einen guten Reservationsvertrag ausgehandelt. Darin war den Nez Perce ein grosser Teil ihres angestammten Gebietes als Reservat zugesprochen worden, ein Gebiet mit so vielen Wäldern, Flüssen und Weiden, dass sie dort gut in ihrer traditionellen Form leben konnten.

In der zweiten Hälfte des 19. Jh. waren aber immer mehr Siedler in das Indianergebiet eingedrungen. Das Land hat sehr viele Möglichkeiten geboten und war für Siedler und Farmer bestens geeignet. Der alte Chief Joseph hatte auf dem Sterbebett seinem Sohn das Versprechen abgenommen, dass dieser das Land, in dem seine Väter begraben waren, niemals verkaufen würde. Weil es aber zunehmend zu Konflikten zwischen Siedlern und den Nez Perce gekommen war, wollte die amerikanische Regierung die Streitereien beenden und hatte den Nez Perce in einem neuen Vertrag ein sehr viel kleineres Reservationsgebiet angeboten. Der junge Chief Joseph hatte das aber abgelehnt, weil in dem neuen Reservationsgebiet das Leben seines Stammes nicht gesichert gewesen wäre, und weil er seinem Vater versprochen hatte, das Stammesland der Nez Perce nicht aufzugeben.

Schliesslich wollte sich die amerikanische Regierung mit Hilfe des Militärs durchsetzen und die Nez Perce in ein kleines Reservat abschieben. Da hatten die Nez Perce unter der Führung von Chief Joseph versucht, nach Kanada zu flüchten. Dabei waren sie auch durch das Gebiet des heutigen Yellowstone National Park gekommen. Mit viel List und taktischer Klugheit hatte Chief Joseph mit den Nez Perce der massiven Übermacht der US Truppen lange Zeit ausweichen oder ihnen in Scharmützeln entkommen können. Schliesslich waren sie aber doch abgefangen und zur Kapitulation gezwungen worden. Nach der letzten Schlacht und der endgültigen Niederlage soll Chief Joseph eine berühmte Rede gehalten haben mit dem folgenden eindrücklichen Schlusswort:

„... Ich bin des Kämpfens müde. Unsere Häuptlinge wurden getötet. Looking Glass ist tot. Too-hul-hul-sute ist tot. Die Alten sind alle tot. Die jungen Männer haben nun das Sagen. Jener, der sie einst führte, ist tot. Es ist kalt, und wir haben keine Decken. Die kleinen Kinder erfrieren. Einige meines Volkes sind weggelaufen in die Berge. Sie haben keine Decken und nichts zu essen. Niemand weiß, wo sie sind – vielleicht erfrieren sie gerade. Ich will Zeit, um nach meinen Kindern suchen zu können und um zu sehen, wie viele von ihnen ich noch finden kann. Vielleicht finde ich sie unter den Toten. Hört mich, meine Häuptlinge! Ich bin müde. Mein Herz ist krank und traurig. Vom jetzigen Stand der Sonne an will ich nie mehr kämpfen – für immer …“.

Die Geschichte von Chief Joseph und den Nez Perce hat mich sehr angerührt, und ist mir gestern und heute immer wieder durch den Kopf gegangen. Zu Hause über die rücksichtslose Besiedelung der USA und über die Indianerkriege zu lesen ist eine völlig andere Sache, als hier durch genau die Region zu fahren, wo schlimme Dinge geschehen sind. Das ist aber noch nicht Alles: Es gibt hier zwar eben diesen Highway, der nach dem Chief Joseph benannt worden ist, aber ich finde hier nirgendwo Zeichen von Überdenken, Mitgefühl oder Bedauern, und daher zweifle ich, dass dieser Highway ein Zeichen von Würdigung oder Respekt sein soll. Es sieht eher so aus, als ob damit die Indianerthematik touristisch ausgeschlachtet werden soll.

Die Nez Perce hatten ihr angestammtes Land verloren. Auch ihre Freiheit hatten sie Verloren. Im Oktober 1877 hatte die US Kavallerie die Nez Perce in einer Schlacht kurz vor der kanadischen Grenze besiegt. Der meisten Überlebenden waren offenbar bei eisiger Kälte in Viehwagen nach Oklahoma deportiert worden. Viele von ihnen hatten die Deportation nicht überlebt. 60 Jahre später ist dieses Konzept auch in Europa angewendet worden.
Die Geschichte der Nez Perce macht dass ich mir sehr ohnmächtig vorkomme. Zuerst habe geglaubt, dass das mit dem massiven Unrecht zu tun hat, das den Nez Perce widerfahren ist. Später habe ich gemerkt, dass es weniger das Unrecht sondern vielmehr eine unsägliche Bigotterie ist, die mich ohnmächtig und beinahe handlungsunfähig macht. Hier in Amerika wird die Freiheit als höchstes Gut hochgehalten. Aber eigentlich ist damit gar nicht die Freiheit von Unfreien oder von Unterdrückten gemeint, also nicht Befreiung und nicht die Freiheit, die im Gegensatz zum Unrecht steht. Freiheit als höchstes Gute meint hier, nach Belieben das tun zu können, was man gerade tun will. Statt der Fahne der Freiheit wird hier unter dem beschwichtigenden Klang von Psalmen und Schalmeien das Recht des Stärkeren rücksichtslos auf den Schild gehoben. Dummerweise ist das nicht nur in den USA so. Bei uns ist das ja gar nicht so sehr anders. Unsere Freiheitlichen behaupten ja auch mit scheinbar unverbrüchlicher Überzeugung, dass ein Mehr an Freiheit dann entstünde, wenn der Staat abnehmen würde, und damit meinen sie ja genau wie die amerikanischen Siedler nichts anderes als die Möglichkeit, jederzeit und überall das tun zu können was sie gerade tun möchten. Sie tragen nicht die Fahne Freiheit, wie es die Liberalen im 19. Jh. noch unter erheblichen persönlichen Risiken getan haben. Längst haben sie ihre alten Grundwerte auf dem Altar der Gier und der schieren Rücksichtslosigkeit geopfert. Der Slogan „Freie Fahrt für freie Bürger“ meint letztlich nichts Anderes als „Geh mir aus dem Weg, jetzt komme ich“, eine Haltung, die der Adel schon in vorrevolutionärer Zeit eingenommen hatte.

Wir sind also keinen Schritt weiter. Unrecht, Gier, Rücksichtslosigkeit und Bigotterie sind weiss Gott keine neuen Phänomene. Schon im Alten Testament erzählt ein zornig-poetischer Text, dass der Gott Israels angesichts des schreienden Unrechts in seinem Volk resigniert:

"Hört mir zu!
Ich singe euch das Lied meines Freundes von seinem Weinberg:

Auf fruchtbarem Hügel, da liegt mein Stück Land,
dort hackt’ ich den Boden mit eigener Hand,
ich mühte mich ab und las Felsbrocken auf,
baute Wachtturm und Kelter, setzte Reben darauf.
Und süße Trauben erhofft ich zu Recht,
doch was dann im Herbst wuchs, war sauer und schlecht.
Jerusalems Bürger, ihr Leute von Juda,
was sagt ihr zum Weinberg, was tätet denn ihr da?
Die Trauben sind sauer – entscheidet doch ihr:
War die Pflege zu schlecht? Liegt die Schuld denn bei mir?

Ich sage euch, Leute, das tue ich jetzt:
Weg reiß ich die Hecke, als Schutz einst gesetzt;
zum Weiden soll ‘n Schafe und Rinder hinein!
Und die Mauer ringsum – die reiße ich ein!
Zertrampelnden Füßen geb’ ich ihn preis,
schlecht lohnte mein Weinberg mir Arbeit und Schweiß!
Ich will nicht mehr hacken, das Unkraut soll sprießen!
Der Himmel soll ihm den Regen verschließen!

Der Weinberg des Herrn seid ihr Israeliten!
Sein Lieblingsgarten, Juda, seid ihr!
Er hoffte auf Rechtsspruch
und erntete Rechtsbruch,
statt Liebe und Treue
nur - Hilfeschreie" (Jesaja 5, 7)

Eigentlich ist das für mich ja nichts Neues, dass im Zusammenleben unter uns Menschen vieles verkehrt läuft. Auf Unrecht, Ohnmacht und Bigotterie stosse ich heute nicht zum ersten Mal. Aber vielleicht ist es einfach so, dass mich die Geschichte von Chief Joseph und den Nez Perce gestern und heute in einer etwas unbekümmerten Genussorientierung auf dem falschen Fuss erwischt hat. Gut möglich, dass es das bei mir braucht, dass ich ab und zu unvermittelt durchgerüttelt werde.
Und weil mir heute irgendwo der amerikanische Präsidentschaftswahlkampf über den Weg gelaufen ist habe ich noch eine weitere Anmerkung zur Weltgeschichte: Sollte Frau Clinton tatsächlich zur Präsidentin der USA gewählt werden, dann bin ich mir ziemlich sicher, dass wir in vier, spätestens in acht Jahren feststellen werden, dass Bill Clinton die bessere Frau im Präsidentenamt gewesen ist.

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