Der neue Tag in Lewiston beginnt mit einem Prachtswetter. Der Wind von gestern Abend hat nachgelassen. Allerdings sieht man in der Morgensonne die sanften Hügel auf der Nordseite von Lewiston nur noch als grüne Masse. Der Kontrast von gestern Abend wird durch das helle Licht einfach weggeleuchtet.
In Lewiston fliesst der Clearwater River von Osten her in den Snake River, der von Süden her kommt und dann weiter nach Westen fliesst. Ich fahre heute Morgen zuerst ein kleines Stück dem Snake River entlang nach Süden. Der Snake River ist hier ein ruhiges, breites Gewässer mit vielen Freizeitanlagen. Da, wo ich den Fluss dann verlasse, beginnt eine sehr schöne Bergstrecke – und auch eine sehr lange Baustelle. Strassenbaustellen hier in den USA sind ganz anders als bei uns. Hier in den USA wird zuerst einmal eine Spur auf dem Strassenabschnitt gesperrt, auf welchem gebaut werden soll. Und weil die Distanzen hier so gross sind kann es gut sein, dass so eine Spur über 20 Meilen gesperrt ist. Wenn man dann auf der freien Spur über die einspurig befahrbare Strecke fährt, dann sieht man zwar ab und zu ein paar Jungs und Mädels mit Leuchtwesten und Helm und Vermessungsgeräten. Aber eigentlich wäre die Spur über 19.5 Meilen völlig intakt und problemlos befahrbar. Die gesperrte Spur wird hier von Wachtposten überwacht. Die haben hier also nicht so asoziale, arbeitsplatzvernichtende Ampelanlagen wie wir sie haben. Nein, hier wird die zukünftige Baustelle von einer angemessenen Anzahl Wachtposten überwacht, die alle miteinander in Funkverbindung stehen. Wenn dann einer der Wachtposten – nach intensivem Funkkontakt mit den anderen Wachtposten – die verfügbare Spur in einer Fahrtrichtung freigibt, dann fährt da zuerst ein Baustellenfahrzeug los, ein Pickup mit der Aufschrift „Follow me“. Erst wenn dieser Pickup losfährt dürfen die anderen „normalen“ Fahrzeuge dann folgen. Das kann zu komplizierten Situationen führen. Ich habe es schon erlebt, dass die Spur für meine Fahrtrichtung von den Wächtern nach langen Absprachen über Funk freigegeben wurde. Nur war der Fahrer des Follow-me-Fahrzeuges noch gerade am Telefon, und wir mussten selbstverständlich die fünf Minuten abwarten, die der Fahrer gebraucht hat, um sein Telefonat zu beenden.
So erlebe ich viele Strassenbaustellen hier in den USA, und so eine Baustelle befindet sich offenbar auch hier, gleich nach der Abzweigung, die vom Snake River weg führt. Etwa 20 Minuten lang tuckert der Follow-me-Pickup diese wunderbare Serpentinenstrasse hoch, und alle anderen Fahrzeige tuckern brav und langsam hintendrein. Oben auf der Hochebene geht es dann noch eine Weile weiter so. Erst dort, wo die Strasse dann wirklich pfeifengerade wird und nur noch mitten durchs Wiesland führt, dort ist die Absperrstrecke dann zu Ende. Es ist zum in den Tisch beissen.
Aber schliesslich verliert sich der Verkehr, die Ebene geht zu Ende und als Entschädigung folgen sehr schöne Berg- und Tal-Strecken. Zuerst geht es nach einem Aussichtspunkt hinunter zum Grande Ronde River, einem vielleicht 20 m breiten Fluss, der sich in lauter fast regelmässigen Mäandern hier durch die Berge schlängelt. Nach der Grenze zu Oregon führt die Strasse dann wieder in die Höhe. Längere Zeit fahre ich da einer Bergkrete nach. An einem Aussichtspunkt halte ich kurz an, um zu schauen, ob es etwas zu sehen gibt. Ein Mann zwischen 70 und 80 Jahren mit hellem Cowboyhut und kariertem Hemd steht schon da und schaut auch nach, was die Aussicht zu bieten hat. Er fragt mich etwas, und weil ich es nicht verstehe fragt er nach, woher ich denn komme. „From Switzerland“ – ‘Oh, nice“ Pause „Well, I am local“. Er habe das ganze Land hier schon früher auf dem Pferderücken kennen gelernt. Er war also einmal ein richtiger Cowboy, und er ist auch immer noch so schweigsam wie ein einsamer Cowboy. Da kann ich lange abwarten, der sagt nichts mehr, ausser dem obligatorischen „stay safe“ zum Abschied. An einem der letzten Aussichtspunkte auf dieser Teilstrecke gibt es einen schönen Ausblick auf die schneebedeckten Berge im Wallowa-Whitman Forest. Es ist kaum zu glauben, dass man hier bei vollem Sonnenschein und mindestens 20 Grad Celsius durch die Landschaft fährt, und kaum 20 Meilen weiter erhebt sich eine Berggruppe, die immer noch tief verschneit ist.
Kurz nach dem Mittag komme ich in Enterprise an, einem kleinen Ort mitten im malerischen Niemandsland. Beim Tanken frage ich den Tankwart, ob es hier ein Café gebe, in dem ich etwas zu Essen bekomme. Der Tankstellenwart ist sehr freundlich, Mitte dreissig, mit Vollbart, wie die meisten hier. Nein, hier gibt es nur einen Subway. In Joseph, dem nächsten Ort auf meiner Route in etwa zehn Meilen Entfernung, da gibt es dann mehrere Restaurants. Ob ich auf die Route 93 über den Pass wolle? Nein, ich will über Joseph auf die Route 350 und dann auf die Forest Development Road. Ja eben, meint er, das sei die Strasse über den Pass, und die sei noch voll Schnee. Da könne man erst im Juni durchfahren. Warum ist das denn auf der Website mit den Strasseninformationen von Oregon nicht angegeben? Das weiss er auch nicht. Aber wenn ich nach Baker City will, dann muss ich in die andere Richtung fahren, also nicht nach Joseph, sondern über die Hauptstrasse nach La Grande und dann auf die Autobahn. So ein Quatsch. Aber was will ich machen? Kein Pass, kein Restaurant, dann gehe ich eben zum Supermarkt, kaufe mir dort ein Picknick ein und mache unterwegs einen Mittagshalt im Grünen. Angesichts der hohen und immer noch tief verschneiten Berge, die ich vor Enterprise gesehen habe, ist es gut verständlich, dass der Passübergang noch nicht offen ist. Die Strecke nach La Grande hingegen ist zwar völlig schneefrei. Sie sieht aber schon auf der Karte langweilig aus und ist auch wirklich völlig frei von jedem interessanten Aspekt. Ich fahre noch etwa eineinhalb Stunden über La Grande und den Highway nach Baker City. Schon früh, so gegen 15.30 Uhr komme ich in meinem Motel an.
Das Motel ist sauber, der Empfang ist sehr nett. Ein jüngeres Paar hat offenbar gerade eben zum Saisonbeginn das Motel frisch übernommen. Die Dame des Hauses sitzt an der Rezeption und ist sehr und freundlich und entgegenkommend. Sie tut viel dafür, dass sie gute Bewertungen auf Booking bekommt. Das würde ich genauso machen.
Baker City ist zwar nur gerade so gross wie Biberist oder Zuchwil, aber anders als die beiden Agglomerationsgemeinden ist Baker City ist eine eigene Stadt. Hier haben sich Ende des 19. Jahrhunderts die Handelswege gekreuzt und hierher wurden auch die Handelsgüter der Region gebracht, so dass der Ort hier entstanden ist. Baker City bildet sogar eine eigene katholische Diözese. Das wäre ja etwas, wenn Biberist und Zuchwil je ihren eigenen katholischen Bischof hätten.