Portland

Es regnet in Portland. Das hätte ich mir zwar anders gewünscht. Es ist mir aber lieber, wenn es während einem Pausentag regnet, als wenn ich unterwegs bin.
Heute muss ich sowieso wieder einmal meine Ausrüstung in Ordnung bringen. Meine Motorradkleider müssen dringend gewaschen werden. Ausserdem sieht Olga mittlerweile wie ein riesiger Fliegenfriedhof aus. Es kommt ab und zu vor, dass mich Leute ansprechen, weil sie Olga so toll finden (was ja auch völlig richtig ist). Mit der Zeit ändert sich das aber, und die Leute finden es lustig, dass ich so viele Fliegen mit meinem Motorrad einsammle. Dann ist es definitiv Zeit, um eine Waschstrasse aufzusuchen. Und Olga hält dann ja auch brav hin. Das wäre ja noch schöner, wenn sie sich den Auspuff vor die Lampe halten und jammern würde: „Nein, nein, ich will nicht waschen, das brennt immer so in den Scheinwerfern“.

Portland Pioneer Court House

Portland Kirche

Über Mittag nehme ich den Bus und fahre ins Stadtzentrum von Portland. Dort will ich mir ein paar Dinge anschauen, welche die Reiseführer empfehlen. Auf dem Platz vor dem Pioneer Courthouse soll es offenbar immer wieder etwas Interessantes zu sehen gebe. Es regnet gerade nicht, als ich dort ankomme. Eine Gruppe von Asiaten bereitet gerade eine Performance vor. Das sieht zuerst ganz spannend aus. Ohne Text und ohne Ton, aber alle synchron und im Gleichschritt, stellen sie in einem imaginären Rechteck Klappstühle auf. Auf der vordersten Stuhlreihe setzen sich sechs Darsteller hin. Es sieht so aus, wie wenn sie sich einander vorstellen würden. Dann wechseln sich immer wieder Sequenzen ab, wo die Darsteller reden, marschieren, zur Gitarre singen... Eine Weile schaue ich dem zu. Leider verstehe ich überhaupt nicht, worum es hier gehen soll. Nach etwa zehn Minuten habe ich genug gesehen und erlaube mir, vor dem Ende der Vorstellung den Platz zu verlassen.
Etwa zwei Stunden ziehe ich so durch die Strassen von Portland Downtown, schaue mir alles Mögliche an und kriege den Eindruck einer lebendigen, sympathischen und offenen Stadt. Wahrscheinlich ist die Stadt noch viel sympathischer, wenn es nicht regnet.

Portland Hochhaus 1

Portland Hochhaus 2

Auf dem Heimweg werde ich an der Bushaltestelle sofort von einer Frau mit Beschlag belegt. Sie erklärt mir, wie unglaublich korrupt die ganze Stadt sei. Da werden Menschen unschuldig ins Gefängnis geworfen. Leute wie ihr Mann werden von der Polizei ermordet, indem sie langsam vergiftet werden. Die Richter und die Polizei stecken alle unter einer Decke. Falsche Bundesbeamten (also Leute vom FBI, wie sie mir mit gross aufgerissenen Augen erklärt) würden die Stadt unsicher machen. Nur gut, dass das jetzt alles herauskommt, meint sie. Sie habe ja Glück gehabt. Ihr Vater sei schon vor langer Zeit gestorben. Der sei offenbar irgendwie der Finanzminister der hiesigen Mafia gewesen. Die örtlichen Polizisten hätten immer wieder versucht, sie hereinzulegen. Aber wenn sie dann ihren Namen gelesen hätten, dann hätten sie sie schnell wieder in Ruhe gelassen. Die hätten nämlich ziemlich Angst vor ihrem Vater gehabt. Sonst wäre sie schon viele Male von der Polizei umgebracht oder missbraucht worden. Der Bus hier fährt nur alle 30 Minuten, und ich muss 22 Minuten neben der erzählfreudigen Lady warten. Gut, ich hätte es ja schlimmer treffen können. Ich hätte zum Beispiel sieben Minuten früher an der Bushaltestelle sein können. Schliesslich kommt der Bus, und ich bin ganz froh, dass ich den Kontakt zu der Dame verliere.

Am Nachmittag fahre ich zur BMW-Vertretung hier in Portland. Die liegt nur zehn Fahrminuten von meinem Motel entfernt. Meine Motorrad-Sommerhandschuhe sind kaputt, und ich bin auf der Suche nach Ersatz. Das Geschäft des BMW-Händlers in Portland ist ein sehr grosser Laden, etwa dreimal so gross wie der von Ozzie in Chico. Nachdem ich mich eine Weile umgeschaut habe spricht mich ein Mitarbeiter an und fragt, ob ich finde, was ich suche. Bei mir ist alles OK, und sonst werde ich mich melden. „OK“ meint der freundliche Herr, „viel Spass noch“. Er bleibt stehen um meine Reaktion abzuwarten. Ich bin ziemlich verblüfft. Es ist kein Wunder, wenn mich hier jemand nach zwei Sätzen als Deutschsprachigen erkennt. Aber wenn man mich dann auch noch auf Deutsch anspricht, dann ist das für mich schon ziemlich unerwartet. Der Mann von BMW Portland heisst Rainer und stammt ursprünglich aus Bremerhaven. Vor 15 Jahren hat er sich in eine Frau aus Florida verliebt und ist ihretwegen in die Staaten gezogen. Nach ein paar Jahren ist die Beziehung in Florida in die Brüche gegangen. Darauf hat er hier in Portland eine neue Stelle bei der BMW-Vertretung gefunden. Mittlerweile lebt er mit einer neuen Partnerin in einem Haus ganz in der Nähe und ist somit ganz glücklich hier in Oregon. Eigentlich möchte er gerne hier bleiben und das amerikanische Staatsbürgerrecht beantragen. Im Moment ist es aber offenbar gerade so, dass die deutschen Behörden nicht so gerne Doppelbürgerschaften akzeptieren, es sei denn, man könne einen entsprechenden Antrag gut begründen. Rainer hätte eigentlich diese guten Gründe. Seine Eltern sind über 70 Jahre alt und leben immer noch in Bremerhaven. Sein Vater ist dement und ist gerade in eine Institution für betreutes Wohnen gezogen. Nach einem langen gemeinsamen Leben wohnen seine Eltern jetzt gar nicht mehr zusammen. Rainer rechnet deshalb damit, dass er in Zukunft immer wieder einmal für ein paar Monate nach Deutschland fliegen muss, um seinen Eltern zu helfen. Schon jetzt fliegt er jedes Jahr einmal nach Haues. Und jedes Mal, wenn er nach Deutschland zurückkehrt, erschrickt er, wie sehr der deutsche Staat laufend die Sozialwerke abbaut. Seine Eltern haben ihr Leben lang gearbeitet. Aber jetzt reicht ihre Rente gerade einmal fürs Nötigste, so sehr ist sie zusammengekürzt worden. Seine Eltern werden es sich nie mehr leisten können, ihn in Portland zu besuchen.
Rainer erzählt, was er an Portland, an der Umgebung und überhaupt an den USA so mag. Es sei hier einfach viel mehr möglich als anderswo. In Deutschland sei es in den letzten Jahren sehr eng geworden. Allerdings noch nicht so eng wie in der Schweiz. Dort sei ja alles geregelt und der hinterste und letzte Fleck zugewiesen und verplant. Das ist wohl richtig. So ist das halt in der Schweiz. Da gibt es einfach viel zu wenig Land, als dass man es beliebig versauen könnte, wie es zum Teil hier in den USA geschieht. Aber man könnte die Sache durchaus auch andersrum anschauen: So wie hier in den USA ist es halt dann, wenn man sich die Freiheit herausnimmt, rücksichtslos alles zu nehmen, was man haben will. „Wir in Europa hatten früher die Kolonien und haben da unser Unheil angerichtet. Die Siedler und später die Amerikaner haben hier dasselbe mit dem ganzen Kontinent gemacht“, sagt Rainer. Im Tal des Columbia River sind früher viele Indianerstämme sesshaft gewesen. Die haben von der Lachsfischerei am Columbia River gelebt. Dann haben die Siedler, die neuen Herren, am Columbia River Staudämme gebaut. Damit haben sie die Lebensgrundlage der Indianer zerstört. Die sind dann in irgendwelche erbärmlichen Reservate abgeschoben worden und verdünnen jetzt ihr Leben dort mit möglichst viel Alkohol.
Rainer weiss viel, und er kann spannend erzählen. Nachdem wir etwa zwei Stunden geplaudert haben muss er wieder arbeiten. Und ich brauche ja immer noch neue Sommerhandschuhe. Nach langem Suchen entscheide ich mich etwas zähneknirschend für einen ziemlich teuren BMW-Handschuh. Aber Rainer hat einen guten Tipp für mich: Ganz unscheinbar in einer Ecke liegt ein leichter, solider und preiswerter Sommerhandschuh. Die rot-weissen Farben passen auch zu meiner Jacke und meinem Helm. So einen feinen Motorradhandschuh hatte ich noch nie. Mit dem kann ich sogar problemlos meine Kamera bedienen.

Auf dem Heimweg von BMW zum Motel fahre ich an einem Gewürzladen vorbei und halte da noch an. Ich glaube, ich habe noch gar nie erklärt, was es mit diesen „Gewürzen“ eigentlich auf sich hat. Es ist ganz einfach: In den Bundesstaaten Colorado, Oregon, Washington und Alaska ist der Besitz und Konsum von Cannabis-Produkten auch für nicht medizinische Zwecke seit Kurzem erlaubt. In Colorado und Washington kann man in lizenzierten Verkaufsstellen Marijuanablüten und auch Marijuana-haltige Produkte wie Plätzchen, Schokolade, Getränke oder Bonbons kaufen. Weil ich in den letzten Jahren häufig schlecht oder gar nicht geschlafen habe, will ich hier ausprobieren, ob Cannabis mir hilft. Ich habe vor 15 Jahren mit dem Rauchen aufgehört und kann daher kein Gras zum Rauchen brauchen. Stattdessen bin ich auf der Suche nach Edibles, nach essbaren Marijuana-haltigen Produkten. Die habe ich hier gefunden und ausprobiert. Wenn sie mit einem anderen ethnobotanischen Kraut wie Kratom kombiniert werden, dann wirken sie so gut wie pharmazeutische Schlafmittel. In Durango habe ich das erste Mal Cannabiscookies gekauft. Vor zwei Wochen bin ich wieder in Colorado angekommen, habe da Fruchtgummis gekauft. In dem Laden, den ich auf dem Heimweg in Portland sehe, kaufe ich aber nur Kratom. Das ist so ein legales ethnobotanisches Kraut aus Indonesien, das als Pulver mit viel Flüssigkeit konsumiert wird. Der Fruchtgummi schmeckt halt wie Fruchtgummi, sosolala. Kratom hingegen schmeckt richtig übel. Aber gemeinsam machen sie, dass ich eine Nacht lang durchschlafen kann und am Morgen ausgeruht und zufrieden bin, ohne dass ich mich wie bei Schlaftabletten vor einer Abhängigkeit fürchten muss. Darum verbringe ich meine letzte Nacht in Portland wie auf einer Bico-Matratze: Mit einem tüüfe, gsunde Schlaf.

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