Mein Hotel hier in Seattle steht mitten in einigen sehr hohen Gebäuden. Beim Aufwachen sehe ich darum gar nicht, wie das Wetter heute ist. Ein paar Schritte zum Fenster und ein Blick steil nach oben zeigen: Der Himmel ist strahlend blau. Das schafft umgehend gute Laune.
In einem kleinen Lokal ganz in der Nähe kriege ich das vorläufig letzte Frühstück in den USA.
Von Seattle bis nach Vancouver sind es rund 140 Meilen, also keine drei Stunden Fahrzeit. Dabei verlasse ich die USA und reise in Kanada ein. Vor dem Grenzübertritt nach Kanada fürchte ich mich ein wenig. Nicht, dass ich dafür einen konkreten Grund hätte. Aber manchmal habe ich einfach so eine diffuse Furcht vor Übergängen. Darum trödle ich heute Morgen auch etwas herum. Nach einer Stunde habe ich in aller Langsamkeit meine Sachen zusammengepackt und bin reisefertig.
Als ich mit meinem Gepäck in die Hotellobby komme stehen da wie immer ein paar schwarze Hotel-Mitarbeiter. Die Männer haben tatsächlich eine schwarze Haut. Sie sind aber auch ganz schwarz gekleidet: Schwarzes T-Shirt, schwarze Jeans, schwarze Schuhe. Sie sind aber sehr aufmerksam, begrüssen jedermann fast herzlich, beantworten alle möglichen Fragen, helfen bei der Suche nach zuständigen Personen oder begleiten die Gäste zum Lift, zur Garage oder in den Fitnessraum. Obwohl sie weder ein Namensschild noch eine Funktionsbezeichnung tragen ist klar, dass sie weder Portiers noch Gepäckträger sind. Schon einige Male habe ich sie aus diskreter Distanz beobachtet und mich gefragt, was wohl ihre Aufgabe ist. Vermutlich sind sie eine der freundlichsten und unauffälligsten Sicherheitstruppen, die ich bisher gesehen habe.
Mohamed ist einer dieser Männer. Er ist etwa in meinem Alter, einen Kopf kürzer, sehr schlank, geschmeidig wie eine Katze und von wirklich sehr grosser Liebenswürdigkeit. Bei meiner Ankunft vorgestern Abend hatte ich in der Hektik und dem Lärm an der Rezeption nicht richtig mitbekommen, wo das Hotelparking ist. Mohamed hat das sofort gemerkt, ist auf mich zugekommen, hat die Lage geklärt, ist mit mir mitgekommen, hat das Tor aufgemacht, mich eingewiesen und mir in aller Ruhe gezeigt, wie ich ins Parkhaus hinein und wieder heraus komme. Ausserdem hat er für mich mit der Rezeption ausgehandelt, dass ich nur die halben Parkinggebühren bezahlen muss, weil Olga ja nur einen schmalen Abstellplatz in einer Ecke beansprucht.
Auch heute ist Mohamed da. Er sieht, wie ich auschecke, kommt zu mir und begleitet mich in die Garage. Er will wissen, wie meine weiteren Pläne aussehen und was ich mit Olga tun werde, wenn meine Reise zu Ende ist. „Gib sie mir“, lacht er, als er hört, dass ich sie wieder verkaufen werde. „Kein Problem. Du kommst einfach am 4. Juni nach Anchorage und holst sie ab,“ gebe ich zurück.
Mohamed wird ernst. Er kann hier nicht fort, erzählt er. Er muss hier arbeiten, sieben Tage in der Woche. Vielleicht kriegt er einmal im Jahr eine Woche frei. Aber auch dann traut er sich nicht, tatsächlich Urlaub zu machen. In der Zwischenzeit könnte ihm jemand seinen Job wegschnappen. Er hat schon mehrfach erlebt, dass jemand ein paar Tage frei bekommen hat und bei seiner Rückkehr seinen Job besetzt vorgefunden hat. Mohamed braucht diesen Job. Wenn er seine Miete, seine Versicherungen, seine Steuern und seine restlichen Verpflichtungen bezahlt hat, dann bleibt ihm nichts. Mit Daumen und Zeigefinger formt er eine Null um mir zu zeigen, dass ihm rein gar nichts übrig bleibt. In Seattle bekommt man offenbar nur über Beziehungen einen Job. Mohameds Tochter hat ein Studium abgeschlossen und sogar einen Doktortitel. Nach dem Studium ist sie wieder zurück nach Seattle gekommen. Sie findet hier aber keine Stelle, weil sie keine Beziehungen hat. „Dabei ist sie Amerikanerin, nicht so wie ich. Ich bin kein Amerikaner.“ Einen Moment lang ist Mohamed sehr angespannt und wirkt bedrückt. Dann schüttelt er sich, schlüpft wieder in seine geschmeidige Beweglichkeit, lacht sein herzliches Lachen, gibt mir die Hand zum Abschied und wünscht mir eine gute Reise. Ich wünsche ihm auch alles Gute. Obwohl ich nicht in dem Masse betroffen bin wie Mohamed, kann ich die Beklommenheit und die Ohnmacht nicht so schnell abschütteln wie er.
Vor ein paar Tagen habe ich doch erst gerade eine ganz ähnliche Geschichte gehört. In Portland habe ich beim BMW-Motorradhändler Rainer kennen gelernt. Rainer kommt ursprünglich aus Deutschland und ist etwa in meinem Alter. Seine Eltern habe in Deutschland ihr Leben lang hart gearbeitet. Jetzt ist ihre Rente so zusammengestrichen worden, dass sie fast nicht mehr genug zum Leben haben. Rainer muss sie unterstützen. Geringe Entlöhnung, kein Arbeitnehmerschutz, Abbau von Sozialleistungen: In Europa ist es offenbar gar nicht anders als in den USA. Nun könnte man ja die üblichen Kommentare abgeben: Wir leben eben in einer nicht perfekten Welt. Es kann jeden einmal treffen. Es gehört zum Leben, dass wir nicht nur schöne, sondern auch schwierige Situationen erleben. Als erwachsene Personen und als mündige Bürger müssen wir eben irgendwie damit klarkommen. Aber das sind alles nur Allgemeinplätze. Sie treffen den Kern der Sache in keiner Weise. Offenbar gehört es zur westlichen Kultur, dass die kleinen Leute gedrückt und gepiesackt werden. Und Gnade Gott denen, die sich nicht damit abfinden können. Wer sich wehrt wird noch kleiner gemacht. Vor dem Grenzübertritt nach Kanada brauche ich mich nicht zu fürchten. Da gibt es ganz anderes.
Ich verlasse Seattle und mache mich auf zur kurzen Fahrt nach Vancouver. Der Abschied von Mohamed und die Erinnerung an die Geschichte von Rainers Eltern bedrücken mich etwas. Daran ändert auch das schöne Wetter nichts. Nur gut, dass der Interstate Highway 5 nicht mehr als die übliche Aufmerksamkeit verlangt.
Auf der Karte hat es so ausgesehen, wie wenn die Strasse bei Bellingham über einen Hügel führen würde. Darum habe ich gehofft, dass ich da freie Sicht nach Westen auf den Fährhafen oder auf den Pazifik kriegen würde. Unterwegs auf der I5 muss ich leider feststellen, dass es da gar nichts zu sehen gibt. Dafür gibt es im Osten eine schöne Aussicht: Der Mount Baker zeigt sich als schneebedeckter Vulkan unter strahlend blauem Himmel.
Es dauert nicht lange und ich erreiche den Grenzübergang Douglas/Peace Arch. Im Moment gibt es kaum Verkehr. Darum werde ich auch umgehend bedient. Die kanadische Grenzbeamtin bleibt in ihrem Kabäuschen sitzen, wie wenn sie lediglich die Autobahngebühr einziehen möchte. Sie schaut sich meine Papiere aber genau an und fragt auch einige Dinge ganz genau nach. Dann drückt sie ihren Stempel in meinen Pass und lässt mich einreisen. Die Formalitäten haben nicht einmal eine Minute gedauert.
Kurz nach dem Grenzübergang fahre ich an einem grossen Schild vorbei: „Welcome to British Columbia“. Ich muss lächeln, und die Anspannung lässt nach. Eigentlich freue ich mich schon lange auf die kommenden Tage in Kanada. Ich bin gespannt, wie das hier wird. Ob wohl ein Unterschied zwischen Kanada und den USA zu spüren sein wird?
Der Interstate Highway 5 endet an der kanadischen Grenze. In Kanada beginnt hier die Route 99. Diese führt etwa 400km weit über Vancouver nach Norden bis in die Berge. In Kanada misst man die Strecken wieder in Kilometer und nicht mehr in Meilen wie in den USA. Aber sonst stelle ich zunächst keine Veränderungen fest. Ich fahre ja auch nur auf der Autobahn.
Bei Delta, kurz vor Vancouver, führt eine hohe, lange Spannseilbrücke über den Fraser River. Während der Fahrt über die Brücke bekommt man einen schönen Ausblick über die ganze Umgebung. Darum halte ich auf der anderen Seite an und gehe zu Fuss zurück, bis ich mitten über dem Fraser River stehe. Der Verkehr versetzt die Brücke zwar ziemlich heftig in Schwingung, aber die Sicht auf die weitere Umgebung von Vancouver ist grandios. Alex Frazer Bridge heisst diese Brücke. Sie führt nicht nur über den Fraser River. Sie verbindet auch eine Insel mitten im Fluss mit den beiden Ufern. Ihre Schrägseilkonstruktion schneidet schwarze geometrische Muster in den blauen Nachmittagshimmel.
Auf dem Fluss kreuzen Vergnügungsboote, ein Boot der Küstenwache und ein Schlepper. Wie früher liegen die geschlagenen Baumstämme am Flussufer im Wasser. Neben mir donnert der Verkehr über die lange Brücke. Zehn Meilen weiter nördlich sieht man schon die Wolkenkratzer von Vancouver. Etwas weiter flussaufwärts stehen die Patullo Bridge und eine Eisenbahnbrücke so hintereinander, dass es aussieht, als wäre da eine Schrägseilbrücke mit einer Bogenbrücke gemischt worden.
Mein Hotel liegt im West End von Vancouver in der Robson Street. Um da hinzukommen fahre ich einmal quer durch die ganze Stadt, ohne aber viel von der Stadt zu sehen. Das West End ist stark asiatisch geprägt. Auch der Herr an der Rezeption ist ganz offensichtlich kein gebürtiger Kanadier. Er sieht aus wie eine Mischung aus Yul Brynner und einem asiatischen Bankbeamten. Beim Sprechen bewegt er sein Gesicht fast gar nicht. Das wirkt etwas abweisend, obwohl er eigentlich sehr freundlich und zuvorkommend ist. „Since you stay here for two nights I will give you a nicer room“. Weil ich ihn nicht richtig verstehe und weil er auch keine Miene verzieht dauert es einen Moment, bis ich verstehe, dass ich eben sehr zuvorkommend behandelt worden bin. Etwas ausführlich und monoton erklärt er mir die ganze Infrastruktur des Hotels - Wifi, Checkout, Parking, etc. - und bald höre ich nur noch mit einem halben Ohr zu, bis ich merke, dass er eben etwas Wichtiges gesagt hat. „Sorry?“ frage ich nach. „I said that after checking in I have to borrow your motorbike for a while“. Das verstehe ich jetzt gerade nicht und mache ein entsprechend verwirrtes Gesicht. Der freundliche Mann scheint das zu merken und erklärt - immer noch mit seinem unbeweglichen Gesicht: „No, I’m just kidding you“. Mein Gott, ich habe mich aber auch schon besser blamiert.
„The nicer room“ ist ein Zimmer ganz zuoberst im elften Stock. Es ist etwa 25 qm gross, hat auf drei Seiten Fenster und einen exklusiven Zugang zur Dachterrasse. Von da aus hat man einen schönen Blick über das ganze West End. Ich befinde mich hier in einem sehr grünen Stadtviertel mit vielen Bäumen und Grünanlagen. Es macht auf mich überhaupt nicht den Eindruck einer Grossstadt.
Auf meinem ersten Gang durch das West End sehe ich vor allem Menschen asiatischer Herkunft und asiatische Restaurants, daneben ein paar Cafés und mehrere Fahrradvermietungen. Von hier aus ist es nicht weit bis zum Stanley Park. Offenbar mietet man sich alle möglichen Arten von Fahrrädern, um da hinzugelangen und dort herumzufahren.
Zurück im Hotel bedanke mich bei dem netten Herrn an der Rezeption für das schöne Zimmer. Da verzieht er das erste Mal ein ganz kleines bisschen das Gesicht, aber wirklich nur ganz ganz wenig.