Es ist Montagmorgen, Zeit, mich von meiner Suite hoch über den Dächern von Vancouver zu verabschieden. Nach dem Packen und Laden gerate ich zuerst einmal in die Fänge des morgendlichen Stossverkehrs. Eine halbe Stunde brauche ich, um über die Lions Gate Bridge aus der Stadt hinauszufahren. Entlang dieser kurzen Strecke sehe ich links und rechts der Strasse alles Mögliche. Aber eine Tankstelle scheint es hier nicht zu geben. Es dauert eine ganze Weile, bis ich endlich vom Highway herunter und nach siebzehn Kurven und Abzweigungen zu einer Tankstelle komme. Dafür werde ich da von einem sehr freundlichen Tankwart bedient.
So lange ich noch nicht wieder auf dem Highway bin will ich die Gelegenheit nutzen und Vancouver aus dieser erhöhten Perspektive fotografieren. Vorgestern bei der Anreise hatte ich mir die Zeit genommen und bin zu Fuss bis zur Mitte der Alex Frazer Bridge zurückgegangen, damit ich ein paar passende Bilder machen kann. Heute bin ich über die Lions Gate Bridge gefahren. Die ist gefühlsmässig einiges länger als die Alex Frazer Bridge. Aber ich mag den Tag heute nicht gleich mit einem Spaziergang zu beginnen. Ich will endlich losfahren. Nach einigem Suchen finde ich schliesslich einen Platz, der einen ziemlich guten Blick auf die Brücke und die Stadt bietet. Vancouver, die Lions Gate Bridge, die einfahrenden Schiffe und das offene Meer bieten ein eindrückliches Panorama.
Als ich mich umschaue merke ich, dass ich auf einem Schulhausplatz stehe. Hier fahren laufend Lehrkräfte und Eltern vor. Die parken hier, lassen ein- und aussteigen und fahren dann wieder weiter. Ich bin der Einzige, der hier einfach so herumsteht. Mit meiner Motorradbekleidung, meinem Motorrad und der Kamera in der Hand passe ich eigentlich überhaupt nicht hierher. Da kommt auch schon ein Gärtner auf mich zu. Ojeh, da habe ich aber kein gutes Gefühl. Es kommt aber ganz anders, als ich erwartet habe. Der Gärtner begrüsst mmich ganz freundlich und fragt, ob ich den Aussichtspunkt da oben am Hang kenne. Nein, den kenne ich nicht. Ich bin ja ganz offensichtlich auch nicht von hier. Ach so, erklärt mir da der nette Gärtner. Ich soll etwa zwei Kilometer einfach geradeaus weiterfahren. Dann würde ich zu einem Aussichtspunkt kommen, von dem ich eine viel bessere Sicht auf die Stadt und die Brücke hätte. Das ist aber sehr nett von diesem Mann. Und tatsächlich: Die Aussicht ist dort sehr viel besser und unverstellter als vom Schulhausplatz aus. Die Fahrt heute hat zwar etwas mühsam begonnen, aber eigentlich ist es bis jetzt ganz gut gelaufen.
Ich packe die Kamera ein, stöpsle mir die Lärmschutzpfropfen in die Ohren und mache mich auf den Weg zur Autobahn Richtung Nordosten. Heute Abend will ich in Kamloops sein, einer kleinen Stadt zwischen Vancouver und Calgary. Die Strecke nach Kamloops führt durch die Berge und ist mir von dem kanadischen Kollegen, den ich vor einigen Wochen in Moab getroffen hatte, wärmstens empfohlen worden.
Die Autobahn führt alles dem Howe Sound entlang. So heisst die Bucht nördlich von Vancouver, an deren Ende der Squamish River in den Pazifik mündet. Hier sehe ich zum ersten Mal das Meer zusammen mit einem dunkelgrünen Tannenwald, bewaldeten isolierten Inseln und schneebedeckten Bergen. Das ist für mich ein so ungewohntes Bild, dass ich einige Male anhalte und und mir das anschaue.
Sobald die Mündung des Squamish River erreicht ist führt die Strasse auch rasch in die Höhe, in die Berge, und bald beginnt eine sehr lange und ganz wilde Bergstrecke, die hoch hinauf über einen Pass führt und auf der anderen Seite durch einen riesigen Schluchtkessel wieder hinunter. Immer wieder sind grüne oder blaue Seen zu sehen, Ebenen, die spärlich und vereinsamt besiedelt sind, dunkle und hohe Wälder, in denen es nach frischem Holz riecht. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich diesen Geruch in der Natur schon einmal wahrgenommen habe. Sonst riecht es doch am ehesten in der Sauna oder in einem Baumarkt, aber auch dort nicht so intensiv, belebend und faszinierend wie hier.
Kurz vor dem Ort mit seltsamen Namen Lillooet taucht zuerst linkerhand ein richtig tief türkisblauer See auf, der Seton Lake, ein Stausee. Über diesem thront wie eine alte Indianerwache ein Wächterfelsen. Am See vorbei geradeaus führt eine Schlucht in die Richtung von Lillooet. Das Ende der Schlucht – kurz vor dem Ort - wird aber durch einen riesigen Felsriegel abgeschirmt.
Lillooet liegt am Fraser River. Der macht hier eine Doppelschlaufe. In der unteren Schlaufe fliesst der grüne Seton River in den graubraunen Fraser River, ein eigenartiger Anblick. So auch der Rückblick auf den Ort Lillooet, der am Fusse dieses Felsriegels und von diesem vor der Schlucht beschützt wird.
Dann wird die Gegend hügeliger. Hier gibt es keine Schneeberge mehr. Es gibt immer noch Berge und jäh abfallende Tobel. Immer mehr werden die Flächen aber für den Ackerbau genutzt. Wirkt alles hier zuerst noch felsig und unwirtlich so verändert sich die Landschaft immer mehr zu einer sanften Hügelregion und zu Landwirtschaftsland.
Es ist eine lange, anstrengende und intensive Tour heute. Das macht gar nichts. In der letzten Woche bin ich in Portland, Seattle und Vancouver herumgehangen. Die geplanten Motorradtouren dazwischen sind fast ganz zu Traversen verkommen. Eigentlich habe ich seit Colorado, also seit der Strecke zwischen Nederland und Saratoga, nie mehr einen richtig tollen Motorradtag erlebt. Da darf es heute schon ein bisschen zur Sache gehen.
Nach etwa einer einstündigen Fahrt durch knapp besiedeltes, mehrheitlich ebenes Land komme ich schliesslich ins Tal des Thompson River. Der begrüsst mich zuerst einmal mit eine eindrücklichen Schluchtbogen. Die hügeligen Ufer des Thompson River sind verbuschtes und trockenes, steppenartiges Grasland, es sei denn, es hat jemand eine Bewässerungsanlage installiert. Dann ist die Steppe von einem Meter zum anderen entweder saftig grünes Wiesland oder dunkelbraunes Ackerland. Das ist ein eigenartiger Anblick. Es kommt offenbar einfach darauf an, ob jemand da ist, der etwas unternimmt und bewässert, und schon wird aus Steppe Landwirtschaftsland. Nicht, dass das etwas ganz Neues wäre, aber trotzdem: Die Diskrepanz so deutlich und direkt nebeneinander liegend zu sehen ist frappant.
Nach einer schönen, langgezogenen Bergstrecke geht es über eine Anhöhe, und auf der anderen Seite wird da plötzlich der Blick auf den Kamloops Lake frei. Das ist ein so besonderes Bild, dass ich gleich noch einmal umdrehe und die kurze Strecke noch einmal fahre, damit ich die „Überraschung“ noch einmal sehen kann.
Im Motel in Kamloops werde ich sehr freundlich von einem indisch stämmigen jungen Mann empfangen. Ich habe mein Sprüchlein „I have a reservation with Booking“ noch gar nicht fertig aufgesagt, da hat er meine Reservation bereits in der Hand. Er gibt mir ein Zimmer im Parterre, weil Motorradfahrer am liebsten im Parterre wohnen und ihr Fahrzeug im Blick haben. Ja, das habe ich doch auch schon gehört. Gut möglich, dass Harley-Fahrer nur schlafen können, wenn sie in Blickkontakt mit ihrem Krachbaby sind. Aber Olga und ich haben da ein emanzipiertes Verhältnis zueinander. Das dem freundlichen Herrn zu erklären wäre aber glaube ich nicht situationsgemäss. Also, mein Zimmer ist im Parterre, und wenn etwas ist, dann soll ich einfach die Null wählen Das Restaurant des Motels hat bereits geschlossen, aber es gibt sehr viele gute Restaurants in Kamloops, und die meisten davon liegen alle an einer Strasse, und bis dahin dauert die Fahrt nur gerade zwei Minuten. Kann man da auch zu Fuss hingehen? Natürlich, auch das ist kein Problem, das ist ein Spaziergang von vielleicht 15 – 30 Minuten, aber der lohnt sich. Kann er mir denn ein Restaurant empfehlen? Das nicht, aber ich bekomme eine Liste und einen Stadtplan. Es sind schliesslich so viele Restaurants. Der freundliche Herr fragt nach, ob ich noch Fragen habe. Im Moment habe ich keine. Sollte ich doch noch Fragen haben, dann soll ich einfach die Null wählen. „Brauchen sie sonst noch etwas?“ Nein, und sonst wähle ich einfach die Null. Ob es wohl möglich ist, dass die meisten der amerikanischen Republikaner schon einmal in diesem Motel übernachtet haben?
Die Fahrt heute war exemplarisch für meine ursprüngliche Vorstellung von meiner Reise hier. So habe ich mir das eigentlich gewünscht. So habe ich mir den Norden vorgestellt: Hohe Berge, mit oder ohne Schnee, blauer Himmel, hohe Wälder, eindrückliche Flüsse und Seen in unterschiedlicher grüner und blauer Farbe, dieser Hauch des Wilden und Freien, aber nicht die amerikanische Freiheit, sondern mehr dieses Gefühl, dass hier noch kaum jemand war oder dass es hier ausser der Wildnis gar nicht vieles gibt. Wenn ich mir das so vorsage, dann klingt es für mich selber sehr naiv, so wie in dem Lied „Es isch emal en Tubel gsi“, wo es über den Tubel heisst „Er hät gmäint bim Metzger wachset d Servila im Garte, und überall wo d’ Sune schint, da gäbs e Glace-Charte“. Trotzdem, jetzt, nach einem Tag in einer Region, die genau so gewesen ist, wie ich mir das gewünscht habe, bin ich einfach zufrieden und glücklich.