Fort Saint John – Muncho Lake

Die Arbeiter, die hier im Motel wohnen, sind schon ab sechs Uhr beim Frühstück. Als ich gegen halb sieben im Frühstücksraum auftauche, gehöre ich bereits zur zweiten Schicht. Das Frühstück in diesem Motel entspricht dem Zimmer: Es ist schlecht organisiert und macht einen ziemlich unsorgfältigen Eindruck. Der Motelier schwirrt planlos durch die Räume. Sein Lächeln ist ein bisschen zu freundlich. Er sieht nicht, wo es etwas braucht. Wenn man ihn darauf hinweist, dann sieht er es auch und er verstärkt sein überfreundliches Lächeln noch ein wenig. Auf dem Tisch stehen Vollkorn-Cornflakes, Dosenobst in Zuckersirup und jede Menge fettig-süsse Doughnuts und Blätterteigteilchen. Mir ist es ein Rätsel, wie die Arbeiter mit diesem Matsch im Magen ihren Tag starten können.


Gestern Abend habe ich mir vorgenommen, auf dem Alaska Highway längere Etappen zu fahren und deshalb früher aufzustehen und loszufahren. Heute Morgen funktioniert das bestens. Um 07.15 habe ich geladen, getankt, alles gecheckt und fahre auf dem Alaska Highway nach Norden. Schon bald liegt der Geruch von Feuer in der Luft. Die kleineren Waldbrände nordöstlich von hier sind immer noch aktiv. Es gibt aber auch hier Brandspuren. Links und rechts der Strasse stehen immer wieder verkohlte Baumreste.
Während der ersten 100 km herrscht hier noch reger Werkverkehr. Pickups fahren an mir vorbei und bringen Scharen von Arbeitern an Arbeitsplätze, die irgendwo da draussen im Niemandsland liegen müssen. Die Pickups wechseln ab mit riesigen Lastwagen, die Tanks, Holz oder Container transportieren. Dann, nach etwa 100 km, nimmt dieser Werkverkehr ab und es wird ruhiger. Von da an sehe ich vielleicht noch alle ein bis zwei Minuten ein anderes Fahrzeug.
Die Landschaft und die Strasse sind hier zwar unspektakulär. Aber es ist trotzdem schön hier, ruhig, unaufgeregt, und die Sonne scheint. Immer wieder fahre ich durch unglaublich weitläufige Birkenwälder. Darin stehen hohe und dicke Birken eng beieinander soweit das Auge reicht. So etwas habe ich noch nie gesehen.  Bei diesen Vorräten kann die Ikea noch lange ihre massiven Birkenholzmöbel anbieten.
Ab und zu wird die Sicht durch Rauchschwaden getrübt. Zusammen mit den verkohlten Baumstämmen links und rechts gibt das ein gespenstisches Bild. Es ist, wie wenn lange Reihen von toten Bäumen kummervoll mahnend die Strasse säumen.

Ich verstehe einfach nicht, warum es diese heftigen, riesigen Waldbrände hier immer noch gibt. Natürlich weiss ich, wie die Waldbrände hier entstanden sind. Im letzten Winter hat es kaum Niederschläge gegeben. Deshalb ist der Wald jetzt trocken wie Zunder. Wenn jetzt jemand kommt und etwas unachtsam ist, oder wenn jemand kommt und böse Absichten hat, dann brennt der Wald eben. Diese Mechanismen sind mir bekannt. Aber warum ist es so, dass man gegen solche Waldbrände offenbar einfach nichts machen kann? Gut, man versucht sie zu löschen, wenn sie einmal ausgebrochen sind. Und sonst? Es gibt hier so etwas wie Präventionskampagnen. An den Strassenrändern stehen hier ab und zu Informationstafeln. Auf denen sieht man einen Bären oder ein Biber mit einem Rangerhut. In einem Sprechblasentext erklären uns Bär und Biber, dass wir im Umgang mit Feuer sehr vorsichtig sein sollen. Ausserdem zeigt eine Gefahrenskala, wie gross die lokale Waldbrandgefahr gerade ist. Und das ist alles. Man setzt bei der Waldbrandprävention auf zwei herzige Comic-Figuren, und das war's. Angesichts der immensen Schäden, die im Moment durch die Waldbrände in der Provinz Alberta entstehen, wirken diese Tafeln bestenfalls harmlos, wenn nicht sogar zynisch.
Vor ein paar Tagen habe ich im Berghotel Glacier View Inn übernachtet. Der freundliche Kellner dort hat von diesen Waldbränden erzählt. Zuerst hat er die immensen Schäden erwähnt, die dem Land und vor allem den Menschen in Fort McMurray entstanden sind. Dabei hat er ein sehr betroffenes Gesicht gemacht. Als ich ihn aber nach den Ursachen oder nach Präventionsmassnahmen gefragt habe, da hat er nur gelächelt und gemeint: „Oh, that’s politics“. Sein Gesicht hat dabei überdeutlich ausgedrückt, dass er seitens der Politik gar nichts erwartet, das dazu führen würde, dass diese Waldbrände abnehmen oder aufhören. Vielmehr hat sein Gesicht ausgedrückt, dass es doch selbstverständlich ist, dass man von dieser Seite nichts erwarten kann. Nun, von Forstwesen und von Waldbrandprävention habe ich überhaupt keine Ahnung. Darum weiss ich auch gar nicht, welche Präventions-Massnahmen zu ergreifen wären. Aber dafür würde es doch Fachkräfte geben, Praktiker wie Theoretiker. Ich stelle mir vor, dass man durchaus auf neue, weiterführende Ideen kommen würde, wenn man die entsprechenden Aufträge erteilen würde. Aber das tut keiner, und das Schulterzucken und das Schmunzeln des freundlichen Kellners entspricht wahrscheinlich der Realität.
Bei mir ist das anders. Ich hoffe nach wie vor auf kluge, innovative politische Lösungen, und das nicht nur bei der Bekämpfung von Waldbränden in Kanada. Andererseits muss ich zugeben, dass ich von den politischen Gremien eigentlich gar nicht so viel erwarte. Nur, was bedeutet das, und wohin wird es führen? Ich bin jetzt 56 Jahre alt. Zu meiner jugendlichen Weltverbesserungshaltung werde ich nicht zurückkehren. Die hat ja auch letztlich auch nicht weitergeführt. Aber wir haben doch auch schon tolle Gesellschaftsprojekte gesehen, die zum Zeitpunkt ihrer Planung mutig oder innovativ waren, und die beschlossen und umgesetzt worden sind. Wir haben vor 70 Jahren in der Schweiz die AHV eingeführt, ein Meisterwerk nachhaltiger Gesellschaftspolitik. In den Achtzigerjahren wurden das neue Eherecht und die obligatorische Pensionskasse beschlossen. Flavio Cotti, ein konservativer Bundesrat, hat die kontrollierte Drogenabgabe beschlossen und Ruth Dreyfuss, eine sozialdemokratische Bundesrätin hat sie umgesetzt. In den Achtzigerjahren wurden in der Schweiz Milliarden freigegeben für einen gewaltigen Ausbau des öffentlichen Verkehrs, Das Projekt Bahn 2000 wird immer noch umgesetzt. Es hat also doch auch schon funktioniert.
Im Moment scheinen wir aber in eine Phase zu sein, in der wir den grossen unwägbaren Themen nur noch mit einem kollektiven Schulterzucken begegnen. Und ich fürchte, dass uns das an einen ganz blöden Punkt führt. Die Koryphäen der Organisationsentwicklung erzählen uns das schon seit langer Zeit. Wenn Organisationen gross und gefestigt werden, dann kommt ihnen die Anpassungsfähigkeit abhanden. Wichtige und notwendige Veränderungen werden dann nur noch durch Katastrophen herbeigeführt. Und dafür gibt es leider genügend Beispiele.
Im Jahr 1986 ist in der Ukraine in Tschernobyl ein Kernkraftwerk in die Luft geflogen und hat ganz Europa nuklear verseucht. Ein halbes Jahr später hat in Basel ein Chemiewerk gebrannt. Das giftige Löschwasser ist unkontrolliert in den Rhein gelangt und hat von Basel bis zur Nordsee alles Leben im Fluss ausgelöscht. Diese beiden Katastrophen haben bewirkt, dass Umweltthemen höher gewichtet und angegangen wurden. In der Umweltpolitik konnten endlich wichtige Veränderungen durchgesetzt werden.
Vor fünf Jahren hat die Katastrophe im Kernkraftwerk von Fukushima bewirkt, dass europaweit endlich Bewegung in die Frage der Laufzeit von Atomreaktoren gekommen ist. Wie so oft hat es ungeplante und schreckliche Katastrophen gebraucht, damit wichtige und schon lange absehbare Veränderungen endlich durchgesetzt werden konnten.
Leider ist es mit Katastrophen so, dass man mit ihnen besser nicht rechnen sollte. Sie sind nämlich nicht nur katastrophal, sie sind auch unberechenbar. Der Schuss kann also durchaus auch nach hinten losgehen.
Die Reaktion auf eine Katastrophe kann auch zu einer Verfestigung der unhaltbaren Zustände führen. Wenn dann nur noch die Ohnmacht bleibt, dann ist mit einer Gewalteskalation zu rechnen. In den Siebziger- und Achtzigerjahren hat in der Schweiz der Marco Camenisch von sich reden gemacht. Der war - wie viele andere auch - ein heftiger Gegner der Atomenergie-Lobby. Die Ohnmacht gegenüber einem rücksichtslosen System hat ihn letztlich zum Gewalttäter gemacht. Klaus Baader und Ulrike Meinhof hatten sich in den Sechzigerjahren in Deutschland zusammen mit vielen anderen für einen offenen Umgang mit der Nazivergangenheit, gegen den Vietnamkrieg, für die ausserparlamentarische Opposition, für ein anderes Gesellschaftskonzept und ähnliches mehr eingesetzt. Ihre Ohnmacht gegenüber einer Gesellschaft, die von einer konservativ-tabuisierenden Altnazi-Elite dominiert und erstarrt war, hat sie zu Terroristen gemacht.
Die Katastrophen von Fukushima, Tschernobyl und Tschernobâle haben die Politik zu wichtige Entwicklungen gebracht. Aber die Ohnmacht vor den erstarrten fatalen Gesellschaftszuständen haben bei Camenisch und Baader-Meinhof zu Gewalt-Eskalationen geführt. Und diese Katastrophen haben nicht zu positiven Veränderungen geführt. Im Gegenteil: Sie haben die konservativ-reaktionären Kräfte in der Gesellschaft noch verstärkt. Dummerweise folgen Katastrophen keinem Konzept. Sie lassen sich auch nicht steuern. Sie ereignen sich eben, und man muss dann nehmen, was kommt. Ich fürchte mich vor Katastrophen aller Art, wenn ich sehe, dass als einzige Reaktion auf eine scheinbare Ausweglosigkeit nur noch ein kollektives Schulterzucken stattfindet. Ich wünsche mir sehr, dass es irgendwie doch noch gut herauskommen würde, dass ein neuer Ghandi, ein neuer Martin Luther King oder meinetwegen auch ein neuer Duttweiler aufstehen, und dass Bewegung in die erstarrten Meinungsfronten kommen würde. Aber darauf zu hoffen ist genauso blauäugig, wie es dumm ist, auf Schulterzucken zu setzen.
Bei der Fahrt durch diese vielfach vom Waldbrand geschändete Landschaft ertappe ich mich bei dem irren Gedanken, dass man vielleicht einfach einmal die 20 weltweit einflussreichsten Meinungsmacher auf einen Schlag liquidieren müsste, um in den Etagen von Grossfinanz, Weltwirtschaft und Politik so viel Angst zu verbreiten, dass wieder Bewegung in die wichtigsten Themen kommen würde. Das ist natürlich ein völliger Unsinn. Ich würde es im Gegenteil zu verhindern versuchen. Es wäre einfach so schön, wenn es weder einmal ein Zeichen geben würde, dass sich etwas in eine hoffnungsvolle Richtung entwickeln würde.

Etwas gedankenversunken nehme ich auf einem Feldweg einen dunklen Fleck wahr. Gerade als ich daran vorbeifahre sehe ich, dass es ein Bär ist. Kein junger Bär diesmal, sondern ein ausgewachsenes, richtig grosses Tier. Etwa 200 m vom Highway entfernt steht er und schaut zu mir herüber, und da bin ich auch schon an ihm vorbei. Sofort halte ich an und kehre um. Das hilft leider nichts. Der Bär ist schon weg, als ich zurückkomme. Schade. Jetzt bin ich aber schon aus meinen Gedanken aufgeschreckt und achte ein bisschen mehr auf das, was es links und rechts der Strasse zu sehen gibt. Nur wenig später sehe ich wieder einen grossen Bären, der in dem breiten Grünstreifen zwischen Wald und Strasse steht und zu mir hinschaut. Wieder halte ich an und kehre um. Wieder schaut der Bär mir zu und macht sich aus dem Staub, als er mich wenden sieht.

Nachdem ich eine Weile gefahren bin und keine weiteren Bären mehr sehe, erinnere ich mich wieder an das, was mich vorher so beschäftigt hat. Eigentlich bin ich ja hier im Urlaub und nur mir und meiner Reise verpflichtet. Wie kommt es also, dass ich hier bei schönstem Wetter und in einer bemerkenswerten Landschaft mich mit so düsteren Themen befasse?
Ich weiss es nicht. In der letzten Zeit sind offenbar ein paar Dinge zusammengekommen, die mich unerwartet heftig ins Grübeln gebracht haben. Während dieser Reise bin ich zwar schon einige Male auf Geschichten gestossen, die mich beschäftigt haben. Aber ich verstehe nicht, warum mir diese Waldbrände und der etwas nonchalante Umgang meines freundlichen Kellners so nahegehen. Leider finde ich nicht heraus, was mich so betroffen macht. Aber meine Betroffenheit sitzt tief.

Später lese ich noch einmal durch, was ich geschrieben habe und versuche noch einmal herauszufinden, was mich so betroffen gemacht hat. Wahrscheinlich hat es mit Ohnmacht zu tun. Ohnmacht empfinde ich als schlimmes, sehr schwieriges Gefühl. Wenn ich förmlich zuschauen kann, wie etwas Wichtiges einen falschen Lauf nimmt und ich gleichzeitig keine Möglichkeit sehe, etwas dagagen zu unternehmen, dann stellt sich dieses Ohnmachtsgefühl ein. Das bewirkt offenbar, dass ich Angst kriege, selber unterzugehen und überhaupt nichts dagagen tun zu können. Das war ja auch so, als ich Informationen über Chief Joseph gesucht habe, oder als ich die Kurzbiografien der zehn kanadischen Häuptlinge bei den Sunwapta Falls gelesen habe.
Ohnmacht stellt etwas Schlimmes mit mir an. Und wahrscheinlich nicht nur mit mir. Ich erinnere mich, wie wir in der Schule die Novelle über Michael Kohlhaas von Heinrich von Kleist gelesen haben. Kohlhaas war ein normaler, anständiger Bürger. Dann wurde ihm schlimmes Unrecht zugefügt. Bei allen Bemühungen, zu seinem Recht zu kommen, wurde sein Schicksal immer noch schwieriger. Schliesslich hat ihn der verzweifelte Kampf um sein Recht  aus der Kurve getragen und er ist zum Gewaltverbrecher geworden. Am Schluss wurde Michael Kohlhaas für sein Handeln zur Rechenschaft gezogen. Vorher hat er aber endlich Recht bekommen, und auch sein Peiniger wurde bestraft. So tröstlich ist es Baader, Meinhof und Camenisch nicht ergangen.

Wäre es eine Frage der Vernunft, dann könnte man etwas altklug festhalten, dass es sich nicht lohnt, in die Fussstapfen von Michael Kohlhaas zu treten. Das ist aber eben nicht eine Frage der Vernunft. Das Gefühl der Ohnmacht ist die wichtige Reaktion des aufrichtigen Rechtsempfindens auf Zustände, gegen die man sich unbedingt wehren muss. Es sitzt tiefer und wirkt gerade deshalb nicht nach den Regeln der Vernunft, weil die Vernunft in solchen Situationen ja gar nicht weiterführt. Aber wenn es die Umstände zulassen, dann kann man von Glück reden, wenn man sich trotz himmlschreiendem Unrecht nicht in der Ohnmacht verirrt. Jean Giono hat die Geschichte des Mannes mit den Bäumen erzählt: In Südfrankreich gibt es eine Region, da haben vor langer Zeit die Köhler die ganzen Wälder kahlgeschlagen und eine Steppenlandschaft zurückgelassen. Ein Schäfer soll darauf sein ganzes Leben lang mit seinen Schafen in dieser Region herumgezogen sein. Dabei hat er immer wieder Löcher in den Boden gemacht und darin Eicheln versenkt. Dadurch sind mit der Zeit wieder neue Wälder entstanden und haben in dieser Region wieder neues Leben ermöglicht. Es ist also nicht nur so, dass man auch mit dem Guten rechnen muss. Es ist auch ein grosses Glück, wenn man rechtzeitig die Chance zum richtigen Handeln erkennen kann.

Von jetzt an gleite ich weniger in Gedanken ab und bleibe mehr auf der Strasse und bei dem, was es sonst noch zu sehen gibt. Ein Tier liegt auf der Strasse, etwas wie ein Präriehund, und geht nicht weg, auch als ich nur einen Meter von ihm entfernt bis. Vielleicht ist es verletzt. Später beobachte ich das gleiche Phänomen gleich noch einmal. Das Tier liegt einfach auf der Strasse und bewegt sich kaum. Möglicherweise wärmt es sich auf dem Asphalt auf.

Kurz darauf fliegt ein Raubvogel neben mir her und setzt sich fast demonstrativ etwas vor mir auf eine Baumspitze. Wäre ich ein Indianer, dann müsste ich mir jetzt wahrscheinlich überlegen, ob das mein neues Totemtier ist. So aber halte ich an und der Vogel setzt sich wie ein Mannequin hin und lässt sich fotografieren. Dann wird es ihm zu dumm und er fliegt weiter. Ja, das könnte durchaus mein Totemtier sein. Jedenfalls bin ich jetzt definitiv bei der Tierbeobachtung angekommen. Warum auch nicht.

Beim nächsten Stundenhalt kommt plötzlich ein Stelzvogel aus dem Wald in den Grünstreifen zwischen Strasse und Wald. In der Gegend hier ist dieser Grünstreifen oft sumpfig, und das will das Tier offenbar ausnützen und lässt sich auch nicht von dem Fremdling dabei stören. Es ist ein Kanada-Kranich, stelle ich später fest. Ich will etwas näher an den Vogel herankommen. Das hat er aber nicht so gern und seine langsamen Schritte werden etwas schneller. Als ich aber nicht aufgebe und mich ihm etwa auf zehn Meter genähert habe wird es dem Vogel zu blöd. Er stösst einen heftigen lauten Schrei aus und schaut mich wieder an. Ich verstehe das als „Hau ab, Arschloch!“ Also gut, er ist ja hier zu Hause, gehe ich eben wieder. Das Foto von ihm habe ich ja schon, und noch ein neues Totemtier brauche ich sowieso nicht.

Mit langen, kurvigen Strecken wie in Arizona oder in New Mexico ist hier im Norden wohl kaum mehr zu rechnen. Hier geben sie ja jedes Jahr massenhaft Geld aus, um aus kurvigen und hügeligen Strassen gerade Rampen zu bauen, damit sie mit ihren Trucks hier durchdonnern können.

Die Landschaft verändert sich. Bis jetzt waren links und rechts der Strasse einfach hohe Bäume, die ab und zu den Blick auf die Ferne kurz freigegeben haben. Jetzt wechselt das zu einer etwas offeneren, hügeligen Landschaft. Mein nächster Zwischenhalt ist in Fort Nelson.
Ganz absichtlich habe ich mich bis jetzt nicht mehr ums Tanken gekümmert. Ich habe ja jetzt einen Benzinkanister dabei und muss irgendwie testen, ob der auch funktioniert. Ich weiss zwar nicht, was an einem Benzinkanister nicht funktionieren könnte. Aber ich will auf jeden Fall so lange weiter fahren, bis die Benzinuhr gegen Null zugeht und ich das Benzin aus dem Kanister brauche. Es daue4t auch nicht mehr lange, bis es soweit ist. Ich halte an, starte den Testvorgang wie vorgesehen und schliesse den Versuch erfolgreich ab. Prima! Von jetzt an verfüge ich mit meinem neuen Benzinkanister über eine kleine rote zusätzliche Reiseversicherung. Ich bin nun einmal ein Angsthase. Da nehme ich dankbar alles an, was mir irgendwie Sicherheit gibt.

Am Mittag treffe ich in Fort Nelson ein. Fast 400 km weit bin ich heute Morgen durch die sogenannte Wildnis hier gefahren. In Fort Nelson fülle ich alles auf, was mittlerweile leer geworden ist: Den Tank, den Kanister und den Bauch.  Während der Mittagspause sehe ich, dass ich ganz unerwartet zwei sehr wohlwollende Feedbacks zu meinem Blog erhalten habe. Die anerkennenden Worte aus der Heimat, die Erfahrung mit den Tieren heute Morgen und das schöne Wetter wirken wie ein warmer Rückenwind auf meine Seele. Die düsteren Gedanken haben sich zusammen mit den Rauchschwaden verzogen und einen still zufriedenen Nordlandfahrer zurückgelassen.

Erstes Bärenbild

Nach Fort Nelson wird die Landschaft deutlich hügeliger. Das macht den Alaska Highway zu einer etwas interessanteren Motorradroute. Als ich wieder einen Bären sehe, bremse ich rechtzeitig ab und halte an. Diesmal probiere ich den Tipp vom Park Ranger aus und spreche mit dem Bären: „Hi Bear, it’s just me bear, can you see me, bear? Just wait a moment bear, I am just taking a picture and then I will leave you alone, is this ok, bear?“ Der Bär läuft nicht weg. Er schaut mir zu, wie ich mein iPhone hervornehme und mein erstes Bärenbild schiesse. Dann lasse ich den Bären in Ruhe.






Die Strecke führt über einen Pass und gibt einen weiteren Blick auf die Umgebung frei. Unmittelbar darauf folgt eine der Baustrecken, über die ich im Vorfeld der Tour gelesen hatte. Der Weg nach Alaska führt grundsätzlich über geteerte Strassen. Es gibt es aber, dass man über längere Strecken auf Schmutz und Kies fahren muss, weil da gebaut wird und der Belag noch nicht ausgebracht worden ist. So eine Strecke kommt jetzt, und für etwa zehn Meilen fahre ich über Schmutz und Kies. Das ist für mich eine grössere Herausforderung als für Olga. Ich bin einfach nicht gewohnt, solche Strecken zu fahren. Kurz bevor die Schotterpiste zu Ende ist steht wieder ein Bär am Strassenrand. Weil ich im Baustellentempo unterwegs bin sehe ich ihn rechtzeitig und halte auf sicherer Distanz an. Seit dem letzten Bären habe ich die Kamera im Tankrucksack und kann so schneller reagieren. Kaum habe ich den Bären sauber im Visier, da fährt eines dieser Mobilehomes an mir vorbei und hält genau auf der Höhe des Bären an. Der zottelt natürlich sofort ab. So ein blödes Mobile Home, die haben offenbar weder für Kanada noch für die Höflichkeit ihre Hausaufgaben gemacht. Kurz darauf kommt noch eine Neuigkeit, von der ich in Reiseberichten schon gelesen habe, nämlich eine Brücke mit einem Eisengitter-Boden. Es ist wirklich schwierig und zumindest hier beim ersten Mal recht gefährlich, über dieses Eisenprofil zu fahren. Das Klötzchenprofil meiner neuen Reifen und die Struktur des Eisengitters passen überhaupt nicht zusammen, so dass Olga immer wieder kleine Schlingerbewegungen macht. Insgesamt fahre ich heute über drei solche Brücken. Bei der dritten Brücke merke ich etwas Wichtiges: Ich muss die Arme ganz locker lassen und dem Lenker genügend Spiel geben, damit Olga ihre Schwenker machen kann und dabei von mir nicht gestört wird. Später bestätigt mir ein Anwohner, dass das die richtige Strategie für einen Motorradfahrer auf einer Eisengitterbrücke sei.


Stoneymountain

In Toad River, einem Ort mit vier oder fünf Häusern, tanke ich bei der Poststelle, die auch gleichzeitig Dorfladen, Restaurant und Motel ist. Die Leute dort warnen mich vor den Bisons, die ab Liard auf der Strasse sein können. Den Bisons werde ich erst morgen begegnen. Heute treffe ich noch eine Karibu-Kuh. Dann fängt es an zu regnen, just etwa eine Viertelstunde, bevor ich in meinem Hotel ankomme.

Reiseroute am Montag, 16. Mai 2016

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