Heute Morgen wache ich in Muncho Lake schon früh auf. Das ist gar nicht verkehrt. Schliesslich muss ich noch die Wäsche von gestern Abend zusammenlegen und packen. Ausserdem hält der gute Vorsatz damit schon den zweiten Tag.
Kurz nach sechs Uhr in der Früh fange ich an, Olga zu beladen. Um diese Zeit bin ich schon lange nicht mehr der einzige, der munter ist. Drei Gästepaare haben die Lodge bereits verlassen. Ein neuer Gast fährt zu und möchte tanken. Da ist er noch ein bisschen früh dran. Hier sind die Gäste früher wach als die Hotelmitarbeitenden. Es ist ein Amerikaner auf der Durchreise nach Anchorage. Er hat dort eine Saisonstelle als Barkeeper, macht das schon zum vierten oder fünften Mal, so genau weiss er das offenbar auch nicht. Heute Morgen ist er schon eine Weile mit seinem alten Golf gefahren und hat dabei einen Bären gesehen, der zu ihm ans Auto gekommen ist. Das erstaunt mich aber. Aufgrund der Instruktion des Park Rangers bin ich davon ausgegangen, dass Bären nichts von uns wollen. Aber er bleibt dabei, dass der Bär zu ihm ans Auto gekommen sei und sich sogar mit den Vorderpfoten an der Motorhaube aufgerichtet habe. Später zeigt er den Film, den er dabei gedreht hat. In Wahrheit wollte der Bär eigentlich abhauen, aber der junge Mann hier hat ihn gerufen und ihn zu seinem Wagen gelockt, indem er so getan hat, als wolle er ihm etwas zu fressen geben. Als der Bär dann neugierig geworden ist hat sich der gute Mann hier ins Auto zurückgezogen und den Bären dabei gefilmt, wie er das Fressen gesucht hat, das er ihm vermeintlich angeboten hatte. So entstehen diese blöden Märchen um die Bären. Ich ärgere mich gerade ein bisschen über diesen Kerl. Aber er hat auch sein Gutes. Als ich ihm erzähle, dass man mich schon in Arizona vor Elchen gewarnt hat erklärt mir nämlich, dass Moose und Elk nicht dasselbe sind. Moose sind Elche wie wir sie kennen, Elks sind aber andere grosse Tiere. Später schaue ich das nach und sehe, dass ein Elk in Arizona ein Wapiti-Hirsch ist. In Arizona gibt es Elks, also Wapitis, und nicht Elche.
Schon bald zeigt sich, dass heute der Tag der Begegnungen ist. Kaum bin ich von der Northern Rockies Lodge weggefahren begegne ich schon einem Wapiti-Hirsch. Nur wenige Kilometer später steht ein Bighorn-Rudel auf der Strasse und leckt am Strassenbelag. Wahrscheinlich hat es irgend etwas Salziges auf der Strasse oder an dem Belag. Zuerst schaue ich den Bighorns aus etwas Distanz zu und mache ein Foto. Dann möchte ich langsam und sorgfältig etwas näher heran gehen. Da verscheuchen die beiden Böcke aber gleich den Rest ihre Frauen und Kinder in sichere Wiese. Es schaut aus wie beste Macho-Kultur. „Mary, nimm die Kinder und geh rein!“ „Susan, du auch!“ Dann stellen sich die beiden Böcke demonstrativ schützend quer vor ihre Familien und lecken weiter am Boden, und ich schwöre, dass ich gehört habe, wie der eine Bock zum anderen gesagt hat: „Komm Joe, lass uns tun, als ob gar nichts wäre, aber wir behalten den Typen im Auge“. „Yepp Jim, nicht dass der noch an unsere Frauen geht“. Wie wenn ich ein Ziegenficker wäre.
Apropos, das ist ja schon ein komischer Aufstand um Jan Böhmermann und sein Gedicht über den türkischen Präsidenten Erdogan. Auch wenn ich das Gedicht blöd finde, der ganze Auftritt war eine spannende Provokation. Wenn dann ein Staatschef auf eine solche Nummer mit diplomatischen und juristischen Interventionen reagiert, dann ist ja genau das richtige geschehen und der Staatsmann war zu blöd, um sich nicht vorführen zu lassen. Ganz spannend finde ich ja, dass der ehemalige griechische Finanzminister Varoufakis sich schützend vor Böhmermann gestellt und gesagt hat, ein Journalist müsse Satire betreiben können, das halte er, Varoufakis hoch und verteidige das. Varoufakis selber ist ja von Böhmermann heftig durch den Kakao gezogen worden, und Böhmermann hat diesen Support nicht nötig. Varoufakis hat doch als Finanzminister bestens bewiesen, was für ein brillanter Denker und Redner er ist. Warum stellt er sich denn jetzt ohne Not hin und bricht ungebeten eine Lanze für Böhmermann. Wahrscheinlich geht es Varoufakis ähnlich wie Robert de Niro. Als alternder Mann muss man glaube ich wirklich aufpassen, mit welchen Formaten und Inhalten man an die Öffentlichkeit tritt. Vielleicht muss ich mir das bei Gelegenheit auch für meinen Blog überlegen. Ich glaube, ich mache es so: Wenn mich Robert de Niro oder Yanis Varoufakis anrufen und um Rat fragen, dann denke ich für mich und meinen Blog auch ernsthaft darüber nach.
Als Nächstes bgegne ich den Wood Bisons. Das sind unglaublich mächtige und eindrucksvolle Tiere. Und so riesig wie die sind - Bullen können locker 2 m Schulterhöhe erreichen - so unglaublich friedfertig sind diese Tiere auch. Ein Vogel sitzt die ganze Zeit auf dem Rücken eines dieser riesigen Tiere und pickt dort irgendwelches Ungeziefer heraus, gerade wie ein Putzerfisch. Und der Bison lässt sich das gefallen und achtet gar nicht weiter auf den Vogel auf seinem Rücken. In kleinen Rudeln stehen die Bisons am Strassenrand und grasen, oder sie spazieren in einer gelassenen Gemütlichkeit über die Strasse, und lassen sich von den Fahrzeigen da überhaupt nicht beeindrucken. Ganz besonders haben es mir die Gesichter dieser Tiere angetan. Sie sehen aus wie mächtige, friedliche Freunde, wie Hagrid bei Harry Potter.
In Coal River muss ich tanken. Hier in der Pampa sind Tankstellen häufig nur half self service. Das heisst, dass jemand zur Tanksäule kommt, grüsst „Hi, howsidoin?“ und dann, wenn ich die Kreditkarte hervornehme, entweder stehen bleibt und ein bisschen plaudert oder zur nächsten Säule weitergeht. Tanken tue ich jedenfalls immer selber. Der Tankwart hier ist ein richtig sympathischer, aber sehr spezieller Typ. Er ist etwa 10 Jahre älter als ich, brandmager, eins neunzig lang, mit schulterlangen, silbernen Haaren, mit einem Mund so breit, dass er von einem Ohr bis zum anderen reicht, trägt eine Nickelbrille, einen Riesenschnauz, zerrissene Jeans und offene Bergschuhe und ist von einer unverbrüchlichen Fröhlichkeit und Freundlichkeit. Der Coal River und auch Liard River gefallen mir beide sehr gut. Ich frage ihn, ob man hier wie überall auch fischt oder Boot fährt. Nein, beide Flüsse sind eigentlich nur zum Anschauen da. Sie führen zu viel Sand, Erde mit sich und sind somit kein guter Lebensraum für die klassischen heimischen Fische wie Forelle oder Lachs. Weil das Wasser so schmutzig ist wird hier auch nicht Boot gefahren, das ist einfach nicht attraktiv. Aber im Frühherbst ist das Wasser offenbar dann sauber, denn dann kommen die Regenbogenforellen den Fluss hoch, und dann ist hier offenbar Erntedankfest. Der Tankwart kommt ursprünglich von Vancouver Island. Da müsse ich unbedingt einmal zum Fischen hin, empfiehlt er mir wärmstens. Da fange man riesige King Salmons. Ich erzähle ihm von dem Mann aus Idaho, den ich in Yuma getroffen habe, und der mir erzählt hat, dass er bei Anchorage einmal einen 20 kg schweren King Salmon gefangen habe, mit dem er 45 Minuten lang gekämpft habe, der ihn dabei 12 Meilen hinter sich her gezogen habe, und ich lache darüber. Der nette Tankwart nickt aber und meint, das sei bei einem King Salmon völlig normal. Sein grösster Fisch sei ein Heilbutt von 24 kg gewesen, mit dem er auch 45 Minuten lang gekämpft habe. Entweder bindet mir hier jetzt schon der zweite den Bären von den riesigen King Salmons auf, oder ich habe mich wirklich getäuscht, als ich hinter der Geschichte des Mannes in Yuma nur Fischerlatein vermutet hatte. Der Tankwart erzählt ein bisschen darüber wie es hier so ist. Er liebt die Bisons hier. Das seien einerseits so mächtige Tiere und andererseits auch dermassen friedlich, dass man einfach zwischen den Tieren einer Herde hindurchspazieren könne. Er freut sich, dass die Herde der Bisons hier mittlerweile wieder auf 300 Tiere angewachsen ist. Die Schwarzbären hingegen machen ihm Sorgen. Deren Population sei so gross geworden, dass sie bei der Futtersuche problematische Wege gehen würden. In der letzten Zeit hätte man in der Region sogar Bären abschiessen müssen, weil sie zu viele Bisonkälber gerissen hätten.
Bären habe ich ja schon gestern mehrfach gesehen. Auf der Fahrt heute treffe ich auch wieder mehrmals Bären, einmal sogar einen Grizzly. Jetzt habe ich dieses Tier auch in Natura gesehen, und konnte im Gegensatz zu gestern richtig gute Bärenfotos machen. Aber die Bärenpopulation scheint hier wirklich etwas gross geworden zu sein.
Später treffe ich auf einem View Point ein älteres Ehepaar aus Texas. Sie sind Mitte April zu Hause mit einem kleinen Camper gestartet und haben jetzt noch fünf Monate Zeit, um ganz gemütlich nach Alaska zu fahren, dort ein paar Wochen zu verbringen und dann wieder zurückzufahren, so dass sie im Herbst wieder zu Hause in Texas sind. Sie machen beide auf mich einen etwas braven Eindruck, bis sie erzählt, dass sie beide bis vor zwei, drei Jahren auch mit dem Motorrad unterwegs gewesen seien. Beide sind ein Custom Bike im Easy Rider Stil gefahren. Das hätte ich den beiden gar nicht gegeben. Die Frau sieht ein wenig aus wie meine Mutter und ist auch ähnlich gekleidet. Meine Mutter auf einer 1400er Intruder, das hätte ich ja gerne einmal gesehen. Jedenfalls haben sich die beiden mit zunehmendem Alter unsicher auf ihren Motorrädern gefühlt. Dann haben sie offenbar auch eine Einrichtung gehabt, um die beiden Motorräder auf ihren Camper mit aufzuladen. Und das ist ihnen zu aufwändig geworden. Es hat beim Aufladen offenbar auch zu viele Schäden an den Motorrädern gegeben. Da haben die beiden mit dem Motorradfahren aufgehört und sind jetzt nur noch mit dem Camper unterwegs.
Am Mittag komme ich in Watson Lake an. Auf diesen Ort war ich ja sehr gespannt, weil in unmittelbarer Nähe hier der Stewart-Cassiar und der Alaska Highway zusammentreffen und der Ort dadurch eine gewisse Berühmtheit hat. Es gibt hier auch einen riesigen Schilderwald, wo Touristen offenbar seit Jahren ein Ortsschild ihres Wohnortes mitbringen und im Schilderwald hinterlassen. Einige überraschende Schweizer Orte finden sich jedenfalls auch darunter. Aber ansonsten ist Watson Lake ein schmutziges Kaff. In einem der traditionellen Cafés esse ich etwas Kleines zu Mittag und fahre dann weiter. Das mit dem Mittagessen hier hätte ich auch besser bleiben lassen. Am Abend büsse ich dafür, und das ist mir auf dieser Reise hier noch kaum passiert.
20 km nach Watson Lake komme ich an die Stelle, wo der Stewart-Cassiar und der Alaska Highway zusammentreffen. Hier biege ich ab und fahre wieder nach Süden, wieder nach Prince George, wo ich in etwa drei Tagen sein werde. Kurz nach der Abzweigung halte ich bei einem Rastplatz an, weil es da grosse Informationstafeln über den Stewart-Cassiar Highway hat, die ich mir anschauen möchte.
Hier treffe ich auch Roland und bleibe mehr als eine Stunde stehen.
Danach bin ich etwas unter Zeitdruck, denn das Wetter wird offensichtlich etwas schlechter und auch kühler, und ich will einfach rechtzeitig in Dease Lake sein und wenn möglich nicht verregnet werden.
Die Strecke nach Dease Lake ist überhaupt nicht toll. Die Strasse ist schlecht, hat einen groben Belag und wirklich viele kaputte Stellen und Schlaglöcher. Links und rechts der Strasse stehen hohe Bäume, so dann man ausser Bäumen und Strasse nichts sieht. Zweimal scheuche ich einen Bären auf, aber der Bär haut immer gleich ab. Mittlerweile habe ich schon so oft einen Bären gesehen, dass es zwar jedes Mal spannend, aber eigentlich keine Überraschung mehr ist. Weil immer mehr dunkle Wolken aufziehen halte ich an, um mich regenfest zu machen. Ich möchte wirklich nicht, dass es richtig zu schiffen anfängt, und ich müsste mich dann im strömenden Regen ins Regenkombi hineinzwängen. Jetzt bin ich zwar gegen den Regen gewappnet, aber der kommt nicht. Es ist also auch wieder nicht recht.
Vor dem Motel spricht mich ein junger Mann an und fragt ob ich aus der Schweiz komme. Ja, da komme ich her, und er? Es ist ihm etwas peinlich, weil er aus der französischen Schweiz ist und vermutet, dass ich ein Klischee-Deutschschweizer sei, der kein französisch spricht. Er ist nämlich ein Klischee-Romand und spricht tatsächlich kein Deutsch. Dann reden wir eben französisch miteinander. Er ist vor einem Monat von der Schweiz herkommend in Fairbanks angekommen und will mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in den Süden. Leider fahren auf dem Stewart-Cassiar Highway keine Busse, und Züge gibt es hier auch keine, so dass er sich mit Autostopp bis Prince Rupert durchschlagen muss. Ich biete ihm zuerst an, dass ich ihn mitnehme. Er muss einfach einen Helm auftreiben. Das muss ich allerdings gleich wieder zurücknehmen. Mein Soziussitz ist ja gar nicht frei. Da wohnt ja seit ein paar Tagen mein Benzinkanister, und den werde ich nicht weglassen, auch für einen jungen Romand nicht. Aber er nimmt es gelassen, und wenn ich es richtig sehe, dann ist er auch fast erleichtert. So ganz geheuer wäre es ihm wohl nicht gewesen, hinten auf der Olga so gegen die 500 km durch die kanadische Pampa zu fahren. Dann ist es ja für uns beide gut.