Roland

Wie bereits erwähnt biege ich etwa 20 km nach Watson Lake in den Stewart-Cassiar Highway ab und fahre wieder nach Süden. Auf einem Rastplatz kurz nach der Abzweigung informiere ich mich über den Stewart-Cassiar Highway, der ja jetzt vor mir liegt.

Während ich da stehe, Bonbons lutsche und mich an der Informationstafel über die vor mir legende Strecke schlau mache, fährt ein Auto vom Strassenunterhalt vor. Ein sympathischer Mann, etwas jünger als ich, steigt aus grüsst und fängt an, den Rastplatz in Ordnung zu bringen. Ich nutze die Gelegenheit und frage nach dem Strassenzustand und den Wetteraussichten. Mit der Strasse müsse ich ein wenig aufpassen, meint er. Die sei nicht in einem so guten Zustand wie der Alaska Highway, und nach etwa 20 km gebe es vermehrt auch Strassenschäden, vor denen ich mich in Acht nehmen soll. Und was das Wetter anbelangt, da fahre ich wahrscheinlich in den Regen hinein, aber morgen sei das Wetter dann wieder besser. Dann will er wissen, woher ich komme. Ich komme aus Muncho Lake und wolle nach Dease Lake. Ja schon, schmunzelt er, „but wherefrom do you come originally?“ Als er hört, dass ich aus der Schweiz komme, fängt er an, deutsch zu sprechen.
Er heisst Roland und kommt ursprünglich aus Lörrach. Vor 28 Jahren, gleich nach seiner Zeit bei der Bundeswehr, ist er zusammen mit einem Freund nach British Columbia gekommen. Hier hat er ein Jahr lang herumreisen und dann wieder nach Deutschland fahren wollen, um dort sein Studium zu beginnen. Nach zehn Monaten hier in British Columbia ist ihm dann aber klar geworden, dass er eigentlich hierbleiben will, und so ist er geblieben. In Vancouver hat er Biologie, Genetik und Pharmazie studiert. Dann hat er hier geheiratet und eine Familie gegründet. Acht Kinder hat er, alle aus einer Ehe und mit derselben Frau. Nachdem er sich mit Gelegenheitsjobs in Vancouver durchgeschlagen hat – eine Zukunft als Pharmareferent hat ihn dann doch nicht so gelockt – hat er einen Job gesucht, wo seine grosse Familie genügend Platz hat und wo er sich auch genügend um seine Familie kümmern kann. So ist er vor zehn Jahren zum Strassenunterhalt von British Columbia gekommen. So genau hat er das nicht gesagt, aber aus seinen Erzählungen schliesse ich, dass er da in leitender Position ist. Er findet es toll, dass er nach dem Mittag gegen 13.30 Uhr mit der Arbeit fertig ist und dann Zeit für seine Kinder hat. Das ist ihm einerseits als Vater wichtig. Es ist ihm aber auch deshalb wichtig, weil seine Frau und er die Kinder im Home Schooling unterrichten. Sie wohnen einfach zu weit abgelegen in der Region von Jade City, als dass die Kinder in eine reguläre Schule gehen könnten. Also unterrichtet er seine Kinder jeweils am Nachmittag in Mathematik, Biologie, Physik und Chemie, wenn er heimkommt. Und wenn er seine Kinder nicht unterrichtet, dann geht mit ihnen Boot fahren, fischen oder jagen.
Er erzählt mir Geschichten über seine Arbeit, über den Winterdienst hier oben. Er erzählt vom Schneepflügen mitten in der Nacht, wenn es wieder einmal Schneeflocken schneit, die so gross wie Hühner sind, und er in einer Nacht auf einer Strecke von über 400 km den Schnee von der Sttrasse räumen muss. Er erzählt von seinen Kollegen und von ihrer Arbeit, erklärt mir, wie man mit einem Splitstreuer den Berg hinauf fahren muss, damit man die Strasse gesplittet bekommt, wie wichtig es ist, dass man sich als Fahrer des Splitstreuers vornimmt, die Strasse möglichst sicher zu machen, und nicht davor Angst haben darf, dass man mit dem schweren Fahrzeug den Berg hier nicht hoch kommt.
Er erzählt über die Indianer hier in Kanada, die sehr einflussreich sind, weil sie eine grosse Bevölkerungsgruppe darstellen und sehr erfolgreich Lobby-Arbeit betreiben, dass sie von der Regierung viel Geld bekommen und dadurch nicht verpflichtet sind, zu arbeiten und auch nicht, Steuern zu zahlen. Er erzählt, wie die Indianer den Alkohol nicht vertragen und darum schon nach einem Bier sturzbetrunken sind und herumhangen, dass das Geld von Regierung direkt an den Chief des jeweiligen Stammes geht, der damit machen kann, was er will, und dass Korruption und Vetternwirtschaft ein riesiges, fast unlösbares Problem bei den Indianern ist.
Roland weiss viel über die Indianer. Er weiss, dass die Stämme früher alle paar Jahre ihren Potlatch abgehalten haben. Da sind jeweils alle Stammesmitglieder für mehrere Wochen an einem Ort zusammengekommen, und haben alle ihrem Chief Geschenke mitgebracht. Jeder Krieger hat im Verlauf des Potlachs einmal den talking Stick bekommen, ist dann aufgestanden und hat erzählt, wer er ist, wer seine Eltern sind, wo er wohnt, mit wem er verheiratet ist, wer seine Kinder sind und was die gerade so machen. Und während ein Krieger mit dem talking stick in der Hand gesprochen hat, da haben alle anderen Indianer geschwiegen und ihm zugehört. So hat sich ein Potlatch offenbar über Wochen hinziehen können, bis alle Krieger eines Stammes einmal zu Wort gekommen sind. Aber das sei die Art gewesen, wie die Indianer früher miteinander kommuniziert und sich gegenseitig auf dem Laufenden gehalten hätten. Als dann die Briten gekommen sind hätten diese nicht verstanden, was die Indianer da machen und hätten gemeint, die Indianer würden nur endlos palavern und gar nicht richtig für sich und ihren Lebensunterhalt sorgen. Das sei eine grobe und katastrophale Fehleinschätzung gewesen.
Roland weiss wirklich sehr viel.  Ausserdem ist er ein so guter Erzähler, dass man ihm gerne zuhört. Während er erzählt schaut er immer wieder auf seine Uhr und meint, jetzt müsse er aber weiterarbeiten, doch dann fällt ihm schon die nächste Geschichte ein und er erzählt weiter.
Über die Regierung, die seiner Meinung nach viel zu grosszügig ist und den Indianern beliebig viel Geld zur Verfügung stellt, kommt er schliesslich auf die aktuelle Gesellschaftsordnung. Schon ganz am Anfang hat er mir zu verstehen gegeben, dass er ein tief gläubiger Katholik ist. Und je mehr Roland ins Erzählen kommt, desto deutlicher wird das auch sichtbar. Wahrscheinlich gibt es tief gläubige Katholiken, die eine ganz andere Sicht auf die Welt habe als Roland, aber Roland verbindet seine Sicht der Welt mit seiner - wie er sagt - zutiefst katholischen Frömmigkeit. Bei der Frage, wie die kanadische Gesellschaft mit gleichgeschlechtlichen Paaren umgehen soll, vertritt er eine sehr einfache und klare Linie: Eine Heirat unter gleichgeschlechtlichen Paaren kommt seiner Meinung nach ganz einfach deshalb überhaupt nicht in Frage, weil eine Heirat per Definitionem nur zwischen einem Mann und einer Frau möglich ist. Auf meinen zurückhaltenden Hinweis, dass eine solche Agumentation doch etwas tautologisch sei, geht er überhaupt nicht ein. Schliesslich kommt es so weit, dass er die Bibel als objektive Wahrheit ins Feld führt, und da kann ich mich einfach nicht mehr zurückhalten, da muss ich ihm einfach widersprechen. Ich versuche zuerst, ihn auf seine Wurzeln als Naturwissenschaftler zu behaften und verweise darauf, dass selbst Naturwissenschafter in ihren Argumentationen nicht von Objektivität sprechen, sondern allenfalls von intersubjektiver Feststellbarkeit. Das lässt ihn zwar kurz zögern, aber wirklich nur ganz kurz. Schliesslich untermauert er seine Position mit dem jüngsten Gericht und dem ewigen Leben. Das wird mir dann doch etwas zu viel. Meiner Meinung nach kann man das mit dem lieben Gott, so wie ich ihn kenne, nicht einfach so machen. Ich glaube ja wirklich nicht, dass der liebe Gott darauf angewiesen ist, dass ich mich für ihn in die Bresche werfe. In diesem Moment hier stehe ich aber vor der Frage, ob ich Roland einfach so weiterreden lassen will, oder ob ich mich in dieser Situation zu einer einigermassen zeitgemässen und menschenfreundlichen Position bekenne. Ich packe also im Geiste meinen alten Werkzeugkasten aus und nehme meine wichtigsten und und zuverlässigsten mentalen Schraubenschlüssel hervor, nämlich Römer 8 und Matthäus 25. Schliesslich habe ich mir vor Jahren den Gesellenbrief in diesem Handwerk erworben, und es fühlt sich so an, als ob die Handgriffe, die ich damals eingeübt habe, noch einigermassen sitzen. Ob das aber schliesslich so ist oder nicht, das spielt bald einmal keine Rolle mehr. Wie fast immer in solchen Situationen führt mein Dagegen-halten nur dazu, dass wir uns in unsere religiös-theologisch verschanzten Gräben verziehen und uns aneinander abarbeiten. Das merke ich auch bald einmal. In Erinnerung an die vielen unnützen solchen Scharmützel, an denen ich in früheren Jahren häufig beteiligt war, suche ich so schnell als möglich eine Gelegenheit, um aus dieser Diskussion auszusteigen. Schliesslich oute ich mich als Theologe und beginne, mich mit dem Hinweis auf die fortgeschrittene Zeit reisefertig zu machen. Roland möchte seine Position aber gerne noch einmal unterstreichen und fragt nach: „Martin, hast du denn auch die Kirchenväter studiert?“ Ja, das habe ich. Wir haben seinerzeit Augustin und Ignatius von Antiochien in allen Tonarten rauf- und runtergeklimpert. Von diesen Fingerübungen von damals ist mir zwar fast nichts mehr in Erinnerung geblieben, aber ich bin mir sicher, dass sie nichts ergeben haben, was eine so verurteilende oder oder eine so einfach zirkuläre Position stützen würde. Schliesslich verabschieden wir uns dann definitiv voneinander. Beim Weiterfahren muss ich noch lange, mit etwas Bedauern und auch mit etwas Wehmut, an meine neueste Bekanntschaft denken. Roland ist wirklich ein sympathischer Kerl, ein begnadeter Erzähler, ein sehr respektabler Vater und eine gradlinige Persönlichkeit. Wir müssen uns bestimmt nicht in allen Punkten einig sein. Aber trotzdem, schade ...

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