Die britische Motorradfahrer-Gruppe fährt heute weiter von Whitehorse nach Valdez an der Südküste. Ich bleibe noch einen Tag hier, arbeite etwas für mich, mache Urlaub und schaue, was es hier noch zu entdecken gibt. Diesen freien Tag hier in Whitehorse hatte ich ursprünglich gar nicht so geplant. Weil ich aber anfangs letzter Woche meine Planung umgestellt hatte und die Tagesetappen grösser gemacht hatte, bin ich jetzt eben einen Tag zu früh hier in Whitehorse angekommen. Und weil die Ferienwohnung in Haines erst morgen frei wird, habe ich heute einen freien Tag aufgrund einer Planverschiebung, also quasi eine Zwischenstunde im Urlaub. Der Gepäckwagenfahrer der britischen Gruppe fährt als letzter ab. Nachdem wir uns ganz herzlich uns voneinander verabschiedet haben – wir waren gestern Abend beim Essen die beiden schweigsameren Gruppenmitglieder – gehe ich frühstücken.
Was werde ich heute den ganzen Tag lang machen? Kann man das Sprichwort der Situation anpassen: Einem geschenkten Tag schaut man nicht ins Mag? Nein, das kann man nicht. Die letzte Woche über war ich so viel am Fahren oder war sonst irgendwo dran, dass ich mir den Tag zuerst noch ein wenig zurechtlegen muss. Zuallererst werde ich aber in aller Ruhe fertig ausschlafen. Erst wenn das mit der gebotenen Gründlichkeit getan ist, werde ich die Arbeiten rund um den Blog anpacken, also Bilder bearbeiten und hochladen, Fehler korrigieren, eine neue Kontaktseite anlegen und die fehlenden Beiträge weniger werden lassen.
Gegen Mittag gehe ich einkaufen, denn meine Lust auf Restaurant-Mahlzeiten ist seit gestern Abend und heute Morgen gerade etwas aufgebraucht. Auf dem Weg zum Supermarkt komme ich am Lokal der Heilsarmee vorbei. Eine recht grosse Personengruppe steht vor dem Gebäude, die meisten mit Gesichtszügen der First Nations, einige davon stehen auch nicht richtig. Das Bild beelendet mich etwas. Es sind vorwiegend Männer in meinem Alter, die offenbar keinen Job oder zumindest keine Aufgabe haben und wahrscheinlich auch nicht in der Lage sind, sich einen Job zu besorgen oder sich einer Aufgabe zuzuwenden. Erst kürzlich habe ich irgendwo gehört, dass über 99% des Erbgutes von Schimpansen und Menschen identisch ist. Was haben Schimpansen denn so für Jobs oder welche Aufgaben übernehmen sie? Was ich weiss gehören sie zu einem Rudel und helfen mit, dieses am Leben zu erhalten. Umgekehrt sorgt sich das Rudel auch um die einzelnen Mitglieder. Vielleicht sind wir in der Geistesgeschichte von uns Menschen einer Fehlannahme aufgesessen, als wir Erasmus mit seiner Idee vom freien Willen oder Descartes mit seinem "cogito ergo sum" gefolgt sind. Natürlich entscheide ich Dinge für mich selber, übernehme damit Verantwortung für mein Handeln und beziehe mich auf mich selber als denkendes Subjekt. Aber ich bin auch Kräften unterworfen bin, die mich handlungs- und entscheidungsunfähig machen, und die bewirken, dass ich mir als Ich-Subjekt verloren gehe. Das geschieht unter anderem dann, wenn ich meine Arbeit, meine Aufgabe, meinen Platz in der Welt oder auch einfach den Sinn meiner Existenz verloren habe. Unser Gesellschaftskonzept berücksichtigt zu wenig, dass der Primatenanteil in uns ganz schnell zum Tragen kommen kann, und dass es dann die Aufgabe des Rudels ist, dafür zu sorgen, dass ein einzelnes Mitglied nicht untergeht, sondern weiterhin seinen Platz bekommt.
Zwischendurch am Schreibtisch informiere ich mich noch etwas über die Stadt Whitehorse. Die Region hier war offenbar schon immer besiedelt, aber immer nur ganz spärlich. In den letzten 120 Jahren gab es zwei grosse Wachstumsschübe: Am Ende des 19. Jahrhunderts hat der Goldrausch um die 100'000 Menschen hierher gebracht, von denen die meisten in den Zwanzigerjahren wieder abgewandert sind. Anfang der Vierzigerjahre waren es noch einmal Zehntausende, die für den Bau des Alaska Highway und der Pipeline hierhergekommen sind und dann auch weitestgehend wieder weggegangen sind. Während diesen Zuwanderungswellen war die Stadt Whitehorse immer nur die Versorgungsbasis, aber nie das Ziel der ankommenden Menschen. Die Goldsucher sind weitergezogen und haben ihr Glück am Klondike im Norden oder in Atlin im Süden gesucht. Die Bauarbeiter haben hier zwar gewohnt, während sie an der Pipeline und am Highway gebaut haben, aber ihr Ziel war die Arbeit am Bau und nicht die Stadt Whitehorse. Die Flussschiffahrt hat die Verbindung von Whitehorse nach Norden sichergestellt. Eine Eisenbahnlinie hat die Verbindung zwischen Whitehorse und den Goldfeldern bei Atlin im Süden sichergestellt. Über eine andere Eisenbahnlinie ist der ganze Handel mit Skagway im Süden abgewickelt worden. Whitehorse war Infrastruktur- und Versorgungszentrum, aber kaum jemand ist hierhergekommen in der Absicht, sich in Whitehorse niederzulassen und hier in der Stadt sein Glück zu suchen. Das ist das, was ich über die Stadt Whitehorse so in aller Kürze hier herausfinde.
Am Abend will ich mir noch etwas die Füsse vertreten und schaue ich mich unten am Yukon River um. Es gibt hier Restzeugen von den ursprünglichen Kulturen, die schon lange vor den grossen Zuwanderungswellen während mehreren tausend Jahren hier in kleinen Gruppen gelebt haben. Diese Restzeugen sind nicht hier aufgestellt worden, um selbstbewusst oder stolz auf die Geschichte oder die Identität der First Nations hinzuweisen. Es sieht eher so aus, als ob sie lediglich in der Hoffnung auf einen touristischen Zusatznutzen gezeigt werden. Die Zeugen der früheren Kulturen sind also lediglich musealisiert worden. Während ich dem Yukon entlang spaziere und mir die Gebäude und die Leute hier so anschaue, versuche ich mir vorzustellen, dass die allermeisten von ihnen erst seit maximal 120 Jahren hier beheimatet sind. Die Urgrosseltern der Menschen hier sind hergekommen, so wie übrigens meine Grosseltern auch, weil sie hier das Glück gesucht hatten, das man ihnen mehrfach versprochen hatte. Nun kann man hier in Whitehorse bestimmt glücklich leben, aber die Menschen, die hier in grossen Wellen angekommen waren, sind wieder fort. Das versprochene Glück haben sie nicht gefunden. Der Goldrausch ist verebbt, die grossen Bauprojekte sind fertiggestellt. Die Glücks- und Arbeitssucher sind weitestgehend wieder verschwunden. Heute kommt die Arbeit hier vor allem vom Staat, mittlerweile auch noch etwas vom Tourismus. Das Wissen darüber, welche Bedeutung man hier als Stadt und als deren Bewohner hat, ist aber wahrscheinlich zusammen mit dem Abfluss der grossen Zuwanderungswellen weggespült worden. Es riecht hier noch ein wenig nach hellgraubraunem Staub und nach Perspektivenlosigkeit.
Etwas weiter Flussaufwärts zeigt sich aber noch etwas ganz Anderes. Da steht allein auf einer Wiese die Klondike, ein stillgelegter Flussraddampfer, gross und mächtig, ein eindrücklicher Zeuge der Erfindungskraft und der Ingenieurskunst. Die Klondike spricht eine ganz andere Sprache, nicht die Sprache der Arbeitssuchenden oder der Glücksritter, sondern die Sprache des weitsichtigen Geschäftsmannes. Nicht, dass Geschäftsleute per se weitsichtig wären, das keinesfalls. Aber hier muss es in Zusammenhang mit diesem Schiff visionäre und mutige Geschäftsleute gegeben haben. Es muss sehr viel Mut, Vorstellungskraft, Glauben an die Idee der Schifffahrt auf dem Yukon, Geld und Investitionsbereitschaft gegeben haben, damit jemand für so ein Schiff Geld locker gemacht hat, so ein Schiff hierhergebracht hat, die ganze spezialisierte Betriebsstruktur auf die Beine gestellt und schliesslich den Service auch noch erfolgreich verkauft hat. Die Klondike spricht für mich die Sprache der Entrepreneurship im besten Sinn. Natürlich haben die Initiatoren und Investoren der Flussschiffahrt auch ihr Glück gesucht. Aber im Unterschied zu den Goldsuchern und Arbeitern haben sie nicht gesucht, was sie finden könnten, sondern sie haben eine Idee gehabt, diese wachsen lassen, sie entwickelt und dann zielstrebig und beharrlich umgesetzt.
Der wesentliche Punkt dabei liegt meiner Meinung nach gerade nicht im heute so viel und völlig zu Unrecht besungenen Unternehmertum. Der wesentliche Unterschied liegt in der Haltung: Nehme ich, was ich kriegen kann und wenn es nichts gibt, dann gehe ich halt wieder, oder aber schaue ich, welche Möglichkeiten hier eventuell denkbar wären, und schaue, ob ich selber eine solche Möglichkeit realisieren kann. Als Gegensatz zur Visionskraft und zum Mut derer, die hier die Flussschiffahrt entwickelt haben, kommt mir der Kleingeist und das Erbsenzählertum in den Sinn, mit denen in meiner Wohnregion seit Jahrzehnten blindwütig versucht wird, bei der öffentlichen Hand zu sparen, ohne dass darin auch nur im Entferntesten ein sinnvolles oder erfolgreiches Unterfangen erkennbar würde. Die öffentlichen Services bei uns werden zwar immer weniger und teurer, aber immerwährend reden bei uns einige führende Stimmen einer undefinierten Sparwut das Wort. Dabei wird leider gar nicht sichtbar, zu welchem Zweck eigentlich gespart werden soll, und was an Gutem damit erreicht werden würde, wenn tatsächlich einmal erfolgreich gespart werden sollte. Wenn es da eine Stimme geben sollte, die auch nur im Ansatz die Idee vertreten würde, dass Wohlstand und Zufriedenheit am besten erreicht werden könnten, indem man deren Merkmale definieren und diese dann auch durch mutige Investitionen zu erreichen versuchen würde, dann ist diese Stimme bisher noch nicht in genügendem Masse hörbar geworden. Man muss im Gegenteil fast annehmen, dass es eine solche Stimme bei uns kaum gibt. Vor einige Jahren hat es bei uns eine Gruppe gegeben, die ein altes Schiff als Gastroschiff auf der Aare vertäuen wollten, quasi eine Klondike in Olten. Die Idee wurde nicht gerade niedergeschrien, aber sie wurde äusserst erfolgreich zu Brosamen zerredet. Diese Brosamen haben wahrscheinlich diejenige Taubenpopulation gross werden lassen, die jetzt überall in der Stadt etwas zu picken sucht und dabei ständig etwas Kot platziert.
Ich kehre zurück in mein Hotel, das den sinnigen Namen Town and Mountain trägt. Dabei komme ich am Gebäude der Royal Canadian Mounted Police vorbei. Ende des 19. Jahrhunderts wurde hier ein erster Mounty-Polizeiposten eingerichtet und der erste Kommandeur hier, Superintendent Samuel Benfield Steele, "Lion of Yukon", hatte beidhändig hart durchgreifen müssen, bis in diesem Sündenpfuhl von Goldgräberei, Glücksspiel, Trunkenheit und liederlicher Lust dem Gesetz und der Ordnung einigermassen Geltung verschafft worden waren. Dafür sei er – so heisst es auf einer Gedenktafel – auch allseits respektiert worden. Er ist aber nur wenige Jahre hier in Whitehorse geblieben, hat später noch als Sechzigjähriger am ersten Weltkrieg teilgenommen und wurde noch einmal später aufgrund dort erworbener Verdienste geadelt.
Braucht es also nicht nur Glückssucher und Unternehmertum, braucht es auch ein gewisses Mass an obrigkeitlicher Martialität, damit eine Community richtig funktionieren kann? Alle meine kritischen und linken Freunde werden mich steinigen dafür, dass ich diese Frage so offen in den Raum stelle. Vielleicht macht das die Gegend hier aus. Der Himmel über Yukon ist weit, da hat es Raum für solche Fragen.
Bei den Primaten ist das aber so. Bei den Gorillas ist es der Silberrücken, bei den Orang-Utans der Chief. Wenn man sich in Hinblick auf eine solidarische Gesellschaftsordnung bei den Primaten bedient muss man wahrscheinlich auch die Autorität in diesen Systemen anschauen. Davonabgesehen finde ich, dass man den Gedanken durchaus auch einmal in Bezug auf meine Wohnregion weiterspinnen sollte. Wenn die Obrigkeit bei uns dem Recht mehr Geltung verschaffen würde, dann könnte es ja durchaus sein, dass dadurch einmal besser zu den kleinen Leuten geschaut würde.