Haines – Beaver Creek

Tom Ganner hat mich gestern Abend auf unserer Rückfahrt gefragt, wann ich heute abzureisen gedenke. Er erwartet nämlich die nächsten Mieter schon heute Mittag und wollte sicher sein, dass er genügend Zeit hat, um die Wohnung zu reinigen und bereitzustellen. Meine Planung kommt Tom Ganner sehr entgegen. Heute fahre ich durch die Yukon Territories nach Norden bis zur Grenze zu Alaska. Für diese Strecke rechne ich mit einer Fahrzeit von etwa sieben Stunden und will darum schon gegen acht Uhr losfahren. Tom ist gestern ganz erleichtert gewesen, als er das gehört hat.
Um viertelvoracht klopfe ich leise an die Haustür der Ganners. Tom öffnet sofort, wie wenn er schon auf mich gewartet hätte. Weil Carolyn noch schläft verabschieden wir uns im Flüsterton. Tom versichert mir mehrfach und so leise wie möglich, dass dies ein grossartiger Tag für mich sein werde. Das Wetter sei heute fabelhaft, und auf der Strecke von hier nach Beaver Creek würde eine grandiose Landschaft auf mich warten. Toms Enthusiasmus freut mich sehr, irritiert mich aber auch ein wenig. Als ich nämlich vor einer halben Stunde nachgeschaut habe, da hat der Wetterbericht für heute sehr wechselhaftes Wetter angesagt. Und was die Landschaft anbelangt, da kenne ich die Strecke zwischen hier und Haines Junction ja schon und weiss, dass es da tatsächlich immer wieder einmal etwas Interessantes zu sehen gibt, hätte aber jetzt keinen Anlass zur Euphorie gesehen.  Zwischen Haines Junction und Bearver Creek führt der Weg dann während vier Stunden durch topfebenes Land, und da habe ich weder auf der Karte noch in den Reiseführern irgendwo einen Grund zum Enthusiasmus gefunden. Aber Tom Ganner wohnt ja hier. Er wird es wohl wissen, und darum lasse ich mich gerne überraschen. Obwohl Tom und ich offensichtlich nicht dazu gemacht sind, beste Freunde zu werden, haben wir uns gestern schätzen gelernt. Entsprechend herzlich ist der Abschied. Möglichst leise und vorsichtig fahre ich über den Kiesweg zur Hauptstrasse, damit ich weder Carolyn noch die Elchfamilie störe.

Unten am Chilkat River zeigt sich die Gegend hier in morgendlicher Kühle, aber doch so strahlend, dass ich anhalte, um mich auch von der Gegend hier in der Mud Bay und in Haines zu verabschieden. Beim Weiterfahren halte ich dann die ganze Zeit über Ausschau, ob ich im Chilkat River nicht doch noch einmal einen schwimmenden Elch sehe, aber ganz offensichtlich findet heute Morgen kein Schwimmen für Elche statt, wahrscheinlich mangels Beteiligung.

Schon nach einer halben Stunde Fahrzeit passiere ich die kanadische Grenze und fahre kurz darauf wieder durch diese eindrückliche Gegend, wo die Berge mit einem Zebramuster aus Schneefeldern tapeziert sind. Wie immer sieht die Landschaft ganz anders aus, wenn man sie in der umgekehrten Richtung durchfährt. Die Earth Squirrells preschen zwar wie schon bei der Hinfahrt im letzten Augenblick vor mir über die Strasse. Aber während sich die Gegend hier bei der Hinfahrt als Berglandschaft im ausklingenden Winter gezeigt hat sehe ich heute eher eine bergige, spärlich bewaldete Steppe, die ab und zu von einem Canyon oder einem See unterbrochen wird. Die Landschaft wirkt heute deutlich grüner als bei der Hinfahrt vor drei Tagen. Die zwei Sonnentage haben gereicht, um eine sichtbare Veränderung zu bewirken.

Kurz nach dem Mittag komme ich wieder in Haines Junction an. Hier gabelt sich die Strasse und führt nordwärts nach Alaska und südostwärts nach Whitehorse. Tom Ganner hat mir gestern die Village Bakery in Haines Junction wärmstens empfohlen. Da wäre ich ja schon auf der Hinfahrt gerne hingegangen, entgegne ich Tom, aber leider habe ich die Bakery nicht gefunden und bin stattdessen im Restaurant von zwei alten Männern eingekehrt. Da hat Tom sein typisch breites Grinsen aufgesetzt und gemeint, nun, die Village Bakery sei eben nicht für jedermann gedacht, und ausserdem sei sie sowieso meistens brechend voll, so dass ich gar keinen Platz gefunden hätte. So ganz spontan habe ich Toms Humor in dieser Situation nicht würdigen können. Er hat das auch gleich bemerkt, weil ich ihn ziemlich unfreundlich angeschaut habe, ist in schallendes Gelächter ausgebrochen und hat mir dann erklärt, dass die Village Bakery gleich hinter dem Raven Hotel liege und dass das entsprechende Schild aber wirklich sehr klein sei. Wenn ich mich jetzt im Nachhinein an Tom erinnere passiert es mir oft, dass mir sein Name nicht gerade präsent ist, und da habe ich mir eigenartigerweise angewöhnt, ihn Sam Hawkens zu nennen, so wie Karl May den Begleiter von Old Shatterhand genannt hat. Wahrscheinlich hängt das damit zusammen, dass Tom Ganner so wie Sam Hawkens gerne bizarre Situationen herbeigeführt und diese ganz offensichtlich genossen hat.
Die Village Bakery finde ich heute problemlos. Von aussen sieht sie aus wie ein hier üblicher Verpflegungsstand. Das Angebot hingegen erinnert dann doch sehr an die Auslage eines Cafés oder Tea-Rooms in Europa. Hier gibt es zwar auch die traditionellen Backwaren wie Doghnuts, Brownies und Pizzas, darüber hinaus aber auch Torten, Früchtekuchen, Quiches und frischen Salat in ausgezeichneter Qualität. Und auch wenn das Lokal zwar gut besucht ist hat es alleweil Platz für einen einsamen Wanderer wie mich. Frisch gestärkt und voll betankt mache ich mich eine Stunde später auf gegen Norden, nach Beaver Creek, dem letzten Ort in Kanada vor der Grenze zu Alaska.
Unterwegs frage ich mich einige Male, woher Tom Ganner wohl die Wetterprognose bezogen hat, aufgrund derer er mir einen so prächtigen Tag versprochen hat. Mindestens zehn Mal ist er mit seiner Voraussage völlig daneben gelegen. So oft hat mich nämlich ein mehr oder weniger lange dauernder Platzregen erwischt. Und wenn ich zehn Mal nass werde statt durch eitel Sonnenschein zu fahren, das halte ich das für eine verdammt schlechte Trefferquote, selbst für jemanden, der auf den Spuren von Sam Hawkens wandelt. Auch über die Schönheit der Landschaft, die mir Tom Ganner so warm angepriesen hat, könnte man durchaus diskutieren. Die Berge, die Wälder, die Seen, ab und zu ein Schneefeld und der blaue Himmel (wenn es gerade nicht regnet) bilden eine durchaus eindrückliche Kulisse. Nur bin ich leider so beschaffen, dass ich mich nicht vier Stunden lang für ein- und dieselbe Landschaft begeistern kann. Je länger ich mir  hier das immer etwa gleich bleibende Landschaftsbild anschaue desto mehr nimmt bei mir das Staunen ab. Es sieht also ganz so aus, als ob ich mir von Tom Ganner einen zünftigen Bären hätte aufbinden lassen. Offenbar muss man damit einfach rechnen, wenn man es mit Sam Hawkens zu tun hat.

Abgesehen davon, dass Tom Ganners Prognosen wirklich nur ganz begrenzt zutreffen, führt die Strecke an ein paar wirklich sehenswerten Orten vorbei. So zum Beispiel am Kluane Lake, einem langen, türkisblauen See, etwa 70 km lang, an dessen Nordwestseite eine eindrückliche Bergkette mit schneebedeckten Kuppen, leichter grüner Bewaldung, grauem Fels und roten Gesteinsflecken liegt. Der Südwestzipfel des Sees ist verlandet und ausgetrocknet, und der darüber hinweg fegende Wind wirbelt hohe gelbe Staubwolken hoch. Weiter im Nordosten sind Berge zu sehen, die nach wie vor tief verschneit sind und deren weisse Farbe zusammen mit dem türkisblauen See und dem weissbewölkten hellblauen Himmel ein Bild von kalter Schönheit abgibt. Der Alaska Highway führt der Südseite des Sees entlang durch das Gebiet der First Nations. Hier gibt es Orte, die Destruction Bay oder Burwash Landing heissen. Der Highway ist hier in einem schwierigen Zustand. Es gibt zwar kaum Schlaglöcher, denen man ausweichen muss, aber immer wieder ist das Strassenbett unberechenbar und schlecht sichtbar verformt durch Wellen, die quer zur Fahrbahn verlaufen. Jedes Mal, wenn ich mit etwas zu viel Tempo in so eine Welle gerate, spickt es zuerst Olga und dann mich in die Höhe. Highway Trampolin Jumping, das kann durchaus etwas heikel sein.

Kurz nach dem Kluane Lake beginnen dann die ganz langen Baustellen, von denen ich in Reiseberichten schon gelesen habe. Hier ist die Strasse ist zum Teil nur einspurig befahrbar und besteht aus mehr oder weniger festgefahrenem Kies. Immer wieder einmal fährt ein Tankfahrzeug durch die Baustellen und besprüht den Strassenbelag aus Schmutz und Kies mit Wasser, um die Staubbildung zu vermindern. Fährt man durch eine Baustelle kurz nachdem so ein Tankfahrzeug Wasser verspüht hat, dann entwickelt sich wirklich kaum Staub. Dafür wird das ganze Fahrzeug mit nassem Strassendreck vollgespritzt. Fährt man dann später noch durch eine Baustelle, bei der das Tankfahrzeug bald kommt, dann entwickelt man bei der Durchfahrt einen unglaublichen Staub, und der frische Schmutz am Fahrzeug wird rasch und zuverlässig bepudert. Nachdem ich diesen Rhythmus drei oder vier Mal durchgespielt habe – denn so viele Baustellen hat es allemal auf dem Weg nach Beaver Creek – ist das ganze Motorrad mit einem erdfarbenen Belag überzogen. Auch ich bin vom Bauch an abwärts vollständig mit dieser erdbraungrauen Farbe zugeschmutzt. So werden Olga und ich unfreiwillig bestens getarnt, und wir verschmelzen fast vollständig mit der Landschaft. Nur noch einige weiss-rote Flecken meiner Jacke und meines Helms zeigen an, dass da auf etwa einem Meter Höhe ein seltsames Wesen wie von unsichtbarer Hand angetrieben durch die Landschaft gleitet.

Am frühen Abend erreiche ich Beaver Creek. Beaver Creek, das sind etwa vier Motels, drei Tankstellen, zwei Restaurants und noch ein paar Häuser, verteilt auf einer Strecke von etwa zwei Kilometern. Die letzte Schicht, mit der ich auf den Baustellen besprüht worden bin, hat aus Staub bestanden. Als ich vor meinem Motel anhalte und absteige löse ich eine heftige Staubwolke aus. Es ist sinnlos, meine Kleider und meine Stiefel ausklopfen zu wollen, denn die Schmutzschicht ist zu dick und haftet so gut, dass sich beim Gehen zwar immer etwas Staub löst, aber beim Ausklopfen hartnäckig an der Kleidung kleben bleibt.
Die Besitzerin des Motels hat meine Buchung erhalten und bestätigt. Sie warnt mich aber, dass sie in der nächsten Nacht eine grosse Gruppe erwartet, die bereits korbweise Alkoholika bei ihr deponiert hat. Hier dürfte es nächste Nacht also extrem laut werden, und daher bittet sie mich um Verständnis, dass sie mir empfiehlt, in einem anderen Motel abzusteigen. Zuerst bin ich zwar etwas erstaunt und irritiert. Als ich aber das riesige Alkoholdepot der erwarteten Gruppe sehe bin ich sofort einverstanden, bedanke mich für den freundlichen Tipp und wechsle sogleich die Unterkunft. Das neue Motel ist nicht nur bedeutend ruhiger. Es verfügt auch über eine Waschgelegenheit für Fahrzeuge. Nach einer längeren und heftigen Waschaktion sind Olga und ich vom gröbsten Schmutz befreit und in Umrissen wieder als Motorrad und Fahrer erkennbar.
Der Eigentümer des Motels ist ein Ostschweizer, etwa 15 Jahre älter als ich, der offenbar schon lange hier in Kanada lebt. Er spricht nur gerade ein paar Brocken Mundart mit mir und verfällt dann sogleich wieder in seinen swiss-canadian Dialekt. Das ganze Anwesen hier wirkt zwar etwas abgenutzt, aber die Zimmer sind sauber, das Wifi funktioniert gut und die Leute sind freundlich. Das reicht mir. Hier werde ich in aller Ruhe und Zufriedenheit etwas essen und übernachten können.

Reiseroute am Freitag, 27. Mai 2016

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