In Beaver Creek fängt der Tag heute mit dem schönsten Wetter an. Es ist schliesslich auch Ende Mai. Da darf es auch an der Grenze zwischen Alaska und den Yukon Territories durchaus schön und warm sein.
Für heute habe ich mir einiges vorgenommen. Deshalb mache ich mich schon früh am Morgen auf den Weg. Gut, dass ich das Motorrad schon gestern Abend getankt und gewaschen habe. So muss ich bei der Lady hinter dem Tresen nur noch den Schlüssel abgeben und mich von ihr und ihrem Mann, dem kauzigen Ostschweizer, verabschieden.
Mein Plan sieht so aus: In einer halben Stunde werde ich den Grenzübergang Alcan nach Alaska passieren. Nach einer weiteren Stunde Fahrt werde ich bei dem Ort Tok in Alaska auf den berühmten „Top oft he world“ Highway einbiegen. Auf dieser Strasse will ich bis zur kanadischen Grenze in Little Gold fahren, dort gleich nach dem Grenzübergang umkehren und mir von der amerikanischen Grenzbehörde den Karibu-Stempel in meinen Pass drücken lassen. Wieder zurück in Tok werde ich bis zum Ende des Alaska Highway nach Delta Junction fahren. Dort werde ich übernachten. In Delta Junction gabelt sich die grosse Fernstrasse nach Alaska. Der Highway 4 führt südwärts nach Anchorage, der Highway 2 nordwärts nach Fairbanks. Von Delta Junction aus werde ich morgen dann zur letzten Etappe meiner Reise starten und über Fairbanks und den Denali Park nach Anchorage fahren. Zunächst einmal liegt aber heute eine gut achtstündige Fahrt vor mir. Gemäss der Karte und verschiedenen Empfehlungen sollen diese acht Stunden Fahrt aber über sehr interessante und schöne Strecken führen. Nach der Schmutztraverse von gestern hätte ich überhaupt nichts dagegen, wenn es wieder einmal einen schönen Motorradtag geben würde. Mit diesen Vorstellungen starte ich heute früh meine zweitletzte Etappe.
Von Beaver Creek aus sind es 30 km bis zum Grenzübergang Alcan (Alaska-Canada), also knapp eine halbe Stunde Fahrzeit. Mittlerweile kenne ich das Ritual an der Grenze schon ein wenig: Zuerst beim ersten Rotlicht halten, bei grün dann vorziehen bis zur zweiten Ampel, dort bei grün vorziehen bis zu der Linie, an welcher der Grenzbeamte steht, den Pass zeigen und den Helm ausziehen. Der Customs Officer, der mich hier kontrolliert, ist jung und sehr ernsthaft. Er sieht sofort, dass mein Visum in zwei Tagen abläuft. Brav, wie es mir der Officer an der Grenze zu Haines erklärt hat, sage ich mein Sprüchlein auf, dass ich nämlich für fast drei Wochen in Kanada war und dass ich gerne eine Extension von fünf Tagen bis zum vierten Juni hätte. Der junge Customs Officer schüttelt aber nur den Kopf und macht eine sehr ernste, fast strenge Miene. Ich sei mit dem Visa Waiver Program in die USA eingereist, sagt er, und das Visa Waiver Program sei strikt auf 90 Tage ausgelegt, ohne dass es die Möglichkeit gebe, eine Verlängerung zu bekommen. Ich falle aus allen Wolken. Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet. Dementsprechend mache ich ein langes Gesicht und stehe sprachlos da. Da tritt ein zweiter Customs Officer auf den Plan, ein Kollege oder der Vorgesetzte, und nimmt eine Haltung ein, wie wenn er den jungen Customs Officer unterstützen wollte. Ich bin wirklich sehr überrascht und erkundige mich, warum mir denn der Customs Officer in Haines etwas ganz Anderes erzählt habe. Die beiden Officer zucken aber nur mit den Schultern. Das geht sie offenbar nichts an. Bei ihnen hat es noch nie eine Extension für das Visa Waiver Programm gegeben, und es wird auch ganz offensichtlich nie eine geben. Heute ist Samstag. Wenn ich nicht bis am Montagabend ausgereist bin, befände ich mich im overstay-Status, erklären sie mir. Das würde eine erneute Einreise in die USA verhindern. Die drei Äpfel, die ich vorgestern in Haines, also eigentlich noch in den USA, gekauft habe, muss ich abgeben, weil die Einfuhr von Obst oder Gemüse verboten ist. Auch das hat der Officer in Haines anders gesehen. Als ich schliesslich abgefertigt bin und einen Moment brauche, um mich für die Weiterfahrt wieder bereit zu machen, bellt mich der junge Customs Officer auch noch an, ich dürfe da nicht stehen bleiben, das sei der Grenzübergang und kein Parkplatz. Ich möchte mir am liebsten nichts anmerken lassen und hier so schnell wie möglich wegkommen, aber innerlich bin ich feuerrot vor Beschämung, Empörung und Wut. Mein Kopf und mein ganzer Oberkörper sind heiss und brennen vor Zorn, Scham und Ohnmacht, als ich vom Alcan-Grenzübergang wegfahre. Das kann doch alles einfach gar nicht wahr sein! Ich hatte extra von zu Hause aus noch recherchiert und Beiträge gefunden, die von einer Verlängerung eines Visa Waivers nach einem Kanada-Aufenthalt berichtet hatten. Hat der strenge junge Officer wirklich einfach seine Pflicht getan, oder hat er mich aus irgendeinem Grund einfach abgeschossen? Während der Fahrt bis zur Abzweigung nach Dawson führe ich wüste innere Streitgespräche und spiele für mich alle möglichen Racheaktionen durch. Natürlich weiss ich gleichzeitig, dass mich das gar nicht weiterbringt, aber diese Geschichte am Grenzübergang war so heftig, dass ich fast nicht aus dieser Kiste herauskomme. Ich bin froh, als die Empörung schliesslich von selbst etwas abschwillt. Als dann der Wegweiser nach Dawson auftaucht wird die Situation noch einmal etwas leichter, weil ich letztlich doch auch wieder neugierig bin auf das, was da auf dem Top of the World Highway auf mich wartet.
Zunächst einmal führt der "Top of the world" Highway über eine lange Strecke einfach geradeaus, bergauf in die Hügel hinein. Dann wird daraus eine richtig tolle Motorradroute, zwar mit einer gerade einmal passablen Strasse, aber mit Kurven, Steigungen und Landschaften, wie ich sie in dieser Region gar nicht mehr erwartet habe. Die Landschaft wechselt zwischen weiten, gewellten Ebenen und sanften hellgrünen Hügeln, die mit schwarzen Zahnstochern von abgebrannten Bäumen durchsetzt sind. Immer wieder einmal besteht die Strasse für eine kurze Strecke nur aus Schotterpiste, und die letzten zehn Meilen bis nach Chicken bleibt es auch bei der Schotterpiste. Chicken, das ist eine verstreute, kleine Häusergruppe auf etwa zweidrittel der Wegstrecke nach Little Gold. In Chicken tanke ich und erkundige mich nach dem Strassenzustand. Die nächsten 30 Meilen ist die Strasse unbefestigt, eine breite, festgefahrene Schmutzpiste. Weil es aber eine Weile nicht geregnet hat ist die Strasse fest, sicher und gut befahrbar. Die letzten zehn Meilen bis zur Grenze werde ich auf einer wunderbar geteerten Strasse fahren, verspricht mir der Tankstellenbesitzer. Mit einem etwas mulmigen Gefühl mache ich mich auf den Weg. Die Sache hier sieht überhaupt nicht nach dem aus, was mir erzählt wurde. Ich sehe Graham noch vor mir, wie er mit einer grossen Geste beschrieben hat, in welch tadellosem Zustand die Strasse in Alaska sei. Der "Top of the World" Highway mag zwar eine schöne Route sein, aber die Strasse hier ist jedenfalls in einem erbärmlichen Zustand.
Meine Befürchtungen sind aber unbegründet. Die Strasse ist wirklich trocken, fest und gut zu befahren, und Olga wächst mit ihren Heidenau-Reifen auf dieser Strecke über sich hinaus. Sie meistert jede Geröllzone und jedes Schlaglochfeld so sicher und so völlig problemlos, dass die Fahrt über die Schotterpiste zwar eine neue Erfahrung wird, aber eine von der ganz tollen Art. Mit einem Affentempo preschen wir hier auf dieser Naturstrasse durch die Gegend, wie ich es mir vorher nie zugetraut hätte.
Für einen kurzen Agenblick kommt dann aber doch noch Spannung auf. Ich rausche mit etwa 50 mph hier durch die Gegend, als ich feststelle, dass sich links von mir auf der Bergseite der Strasse etwas bewegt. Mit einem schnellen Blick nach links sehe ich, dass ein Grizzly mit unglaublicher Geschwindigkeit neben mir her rennt. Jetzt kriege ich aber Panik. Doch schon nach zwei, drei Sekunden schlägt sich der Bär nach links in die Büsche. Offenbar habe ich den Grizzly mit meinem Höllenritt nur aufgescheucht und er hat einfach die nächste Fluchtmöglichkeit gesucht.. Puh, ich habe aber einen zünftigen Schrecken gekriegt. Vor zwei Wochen habe ich mich über die Gefährlichkeit der Bären in der Region hier schlau gemacht. In einem Videoclip habe ich von einem Wildbiologen erfahren, dass Bären auf kurze Distanz unglaublich schnell rennen können. So behäbig diese Tiere auch wirken mögen, sie können tatsächlich ungaublich schnell rennen.
In dieser Region hier wird immer noch nach Gold gesucht. Da und dort sieht man Freizeit-Goldschürfer, die mit ihren Pickups ihre grossen Geräte in die Bäche und Flüsse der Region hier schaffen und ein Wochenende lang Gold waschen. Schliesslich wird aus der Hügelzone eine Berglandschaft und ich fahre auf einer wirklich ausgezeichneten Strasse die letzten Meilen hinauf zum Grenzübergang Little Gold. Bei der Grenze von Alaska zu Kanada teilt sich die Strasse die beiden Strassenteile führen um ein Grenzwächtergebäude herum, welches die USA und Kanada hier gemeinsam betreiben. Meinen Karibu-Stempel kriege ich von der amerikanischen Behörde. Ich muss also zuerst nach Kanada einreisen, um das Gebäude herumfahren und dann gleich wieder in die Staaten einreisen. Es dauert einen kurzen Augenblick, bis ich das dem kanadischen Grenzbeamten erklärt habe, und dann stehe ich auch schon wieder vor einem amerikanischen Customs Officer. Es ist eine Frau in meinem Alter, die mich zur Einreise in die USA befragt. Auch sie sieht sofort, dass ich mich nur noch zwei Tage in den USA aufhalten darf. Ich weiss das und erkläre ihr meine Situation. Während der Fahrt durch das Goldsucherland habe ich meine Situation analysiert und mich entschieden, dass ich am Montag nicht ausreisen werde, sondern mein Programm wie geplant durchziehen werde, overstay hin oder her. Das versuche ich mit der gebotenen Zurückhaltung der Beamtin zu erklären. Sie rät mir davon ab, weil das bedeute, dass ich zehn Jahre lang nicht in die USA einreisen darf. Das wäre zwar blöd, aber nicht weiter schlimm, denn ich bin die letzten 20 Jahre ja auch nicht in die USA gereist. Die Beamtin will aber mit ihrem Vorgesetzten besprechen, ob man etwas tun könne.
Nach einer Weile muss ich Olga parkieren, und – nachdem ich wieder einmal versichert habe, dass ich keine Waffen bei mir habe – ins Gebäude der US Customs Behörde. Der Vorgesetzte meiner freundlichen Beamtin ist ein mindestens zwei Meter grosser Riese. Er kämpft bereits mit meinem Pass in der Hand heftig an seinem Computer. Ich mache grosse Augen. Bekomme ich hier vielleicht doch noch eine Extension? Während einer Viertelstunde befragt mich die Grenzbeamtin zu meinen Personalien und zu meiner Reise, und ihr riesiger Vorgesetzter sitzt schwitzend an seinem PC, tippt ab und zu etwas ein und schaut immer wieder einmal in meinen Pass. Schliesslich greift er zum Telefon und beginnt, mit irgend jemandem zu verhandeln. Nach einer Weile schaut er zu mir herüber und fragt, ob ich heute Morgen schon am Alcan-Grenzübergang gewesen sei. Ich bestätige das und beschreibe ihm kurz die letzten sieben Tage meiner Reise. Der Riese beendet abrupt sein Telefonat und kommt mit einem bösen Blick zu mir herüber. „Sir, why are you here?“ fragt er mich. Das habe ich doch seiner Kollegin schon mehrfach erklärt: Weil ich den Top oft he world Highway fahren will und man mir empfohlen hat, nicht über Dawson zu fahren und weil ich hier den Karibu-Stempel holen will. Das hilft aber nichts. Riese ist sauer. Er fühlt sich von mir ganz offensichtlich verarscht. Es sieht ganz so aus, als habe er mit der Alcan-Grenze telefoniert, und die haben ihm berichtet, dass ich mit meinem Antrag auf Visumsverlängerung bei ihnen abgeblitzt sei und jetzt wahrscheinlich dieselbe Nummer bei ihm noch einmal probiere. Er könne nichts für mich tun, teilt er mir brüsk mit, legt meinen Pass auf den Tresen und macht mich noch einmal darauf aufmerksam, dass ich die USA bis am Montagabend verlassen muss. Zum zweiten Mal heute stehe ich da und weiss nicht so recht, was mit mir passiert. Wieder werde ich knallrot vor Beschämung. Weder kann ich erklären, dass ich hier ja gar nicht um eine Verlängerung nachgefragt habe, noch interessiert sich irgend jemand dafür. Als ich nach dem Karibu-Stempel frage zeigt der Riese wortlos auf einen Stempel und ein Stempelkissen. Ich habe noch nie selber einen Stempel in meinen Pass gedrückt. Es ist nur noch peinlich still hier. Ich packe meine Sachen und gehe.
Obwohl ich dieselbe Strecke wieder zurückfahre, auf der ich hergekommen bin, sieht die Landschaft hier nicht mehr halb so toll aus wie noch vor einer halben Stunde. Beim Tanken in Chicken blafft mich der Tankwart auch noch blöd an. Täusche ich mich oder ist das einfach nicht mein Tag heute? Motorrad fahren macht in der Regel glücklich. Das wäre für heute wohl etwas zu viel verlangt, aber während der Fahrt zurück zum Alaska Highway komme ich wieder etwas zu mir und kann die Dinge ein bisschen sortieren. Im Grunde genommen hat sich in Little Gold einfach eine völlig unnötige Peinlichkeit ereignet. Abgesehen davon bleibe ich bei meinem Entscheid von heute Morgen: Ich ziehe mein Programm durch, overstay hin oder her. Meine Unterkunft in Anchorage ist gebucht, meine Rückflüge sind gebucht, und die nächsten zehn Jahre werde ich nicht in die USA einreisen. Ob ich im Alter von 66 Jahren oder später dann noch einmal nach Amerika fliegen werde, das ist im Moment gerade nicht die dringlichste Frage.
Der letzte Abschnitt des Alaska Highway führt fast ausnahmslos und häufig pfeifengerade durch ebenes Gelände. Alle Schönheiten der Landschaft nehme ich noch mit. Aber ich bin dann froh, wenn ich am Abend in meiner Unterkunft bin. Kurz vor Delta Junction geschieht dann endlich das, worauf ich schon seit Wochen gewartet habe. Ein Elch kommt rechts aus dem Wald, überquert gemütlich die Strasse und verschwindet dann auf der linken Seite wieder im Wald. Nur gut verläuft die Strasse hier einfach geradeaus, denn so habe ich das Tier schon von weitem gesehen. Bei der entsprechenden Stelle halte ich kurz an, aber da ist der Elch schon längst verschwunden. Die Sache hat auch eine komische Seite. Ein paar hundert Meter später steht nämlich ein Schild, das vor Elchen warnt. Entweder wissen die Behörden hier nicht, wo die Elche die Strasse zu überqueren pflegen, oder – noch schlimmer – die Elche hier halten sich einfach nicht an die Verkehrsregeln. Nach meinen Erfahrungen von heute Morgen mag ich das den hiesigen Behörden gönnen. Die sollen nur merken, wie das ist, wenn sich keiner an die Regeln hält. Aber das war’s auch schon, und mein Groll macht Platz für die comique de situation.
Delta Junction ist ein Strassendorf, das seine Existenz wahrscheinlich der Lage an der Kreuzung zwischen Nord- und Süd-Route verdankt. Mein Gastgeber ist ein umfangreicher und etwas umständlicher, aber sehr freundlicher Mann um die siebzig. Er erklärt mir, wo im Dorf was zu finden ist, schmunzelt über meine Aussicht, mich mit einem overstay in Alaska aufzuhalten und spricht mir mit grundgütiger Absicht Mut zu. Was ich an Bevölkerung von Delta Junction heute Abend sonst noch kennen lerne ist in keiner Weise so freundlich wie mein Motelier. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich auf meiner Reise hier je so unfreundliche Leute wie hier erlebt habe. Heute esse ich nicht im Restaurant, sondern im Zimmer.
Am Abend kriege ich noch Post von meiner Tochter. Sie rät mir, rechtzeitig aus den USA auszureisen und keinen overstay zu machen, weil ich sonst heftige Schwierigkeiten bekommen würde. Das ist ein guter Hinweis, aber ich muss mir das überlegen und darüber schlafen.