Es ist Montagmorgen, und mein Programm für heute ist ziemlich dicht gedrängt. In aller Frühe und so leise wie möglich fahre ich mit Olga zur Waschstrasse, damit ich anschliessend von ihr Fotos machen kann. Sie soll doch einen guten Eindruck machen, wenn ich sie zum Verkauf anbiete. Gegen 09.00 Uhr habe ich gepackt und verabschiede mich von Merri Lynn. Mein Aufenthalt hier war zwar nur kurz, aber Merri Lynn ist ein feiner und liebenswerter Mensch, wir haben uns sehr gut verstanden, und dementsprechend herzlich fällt der Abschied aus.
Meine erste Station heute ist die Firma Motoquest, der Motorradvermieter, den mir Graham mit folgenden Worten empfohlen hatte: „They need bikes like yours and they will make you a good price“. Obwohl heute Memorial Day ist, wird bei Motoquest gearbeitet. Ein junger Mann kümmert sich sofort um mich und fragt, wie er mir helfen könne. Nachdem er meine Geschichte und mein Anliegen gehört hat macht er ein etwas bekümmertes und nachdenkliches Gesicht. Tja, meint er, es sei ja nicht so, dass er mir nicht helfen möchte, aber Motoquest braucht im Moment keine zusätzlichen Motorräder, und ausserdem kauft Motoquest nur neue Fahrzeuge und keine Occasionen. Er empfiehlt mir, mich an die BMW-Motorrad-Vertretung hier in Anchorage zu wenden. Die haben aber heute geschlossen, weil Memorial Day ist. Das mit der BMW-Vertretung und dem Memorial Day weiss ich schon. Das Einzige, was mir im Moment weiterhelfen kann, ist ein Käufer, der sofort einschlägt. Das ist der junge Mann hier nicht, aber er hat sich wirklich Zeit genommen und sich freundlich und über die Gebühr um mich bemüht, und das schätze ich sehr. Ich bedanke mich und verabschiede mich von dem freundlichen Kollegen.
Über Graham mache ich mir dann doch noch ein paar Gedanken. Er hatte nicht nur keine Ahnung vom Zustand des „Top oft he World“ – Highway, er kennt offenbar seinen Geschäftspartner hier in Nordamerika auch gar nicht so recht. Vielleicht hat er sich als Tourenguide einfach in der Pflicht gefühlt, mehr zu erzählen, als er wirklich weiss. So etwas Ähnliches habe ich auch schon bei Leuten aus dem Marketing oder aus dem Verkauf erlebt. Vielleicht bin ich auch einfach zu gutgläubig gewesen gegenüber dem, was Graham erzählt hat. Vielleicht liegt die Wahrheit auch ganz einfach wieder einmal in der klassischen helvetischen Mitte und es ist von beidem etwas. Das würde passen, denn ich ärgere mich gerade etwas helvetisch, nämlich sowohl über Graham als auch über mich selber. Aber was soll’s? Es ist fast elf Uhr. Vor mir liegen gute acht Stunden Fahrt, die einiges an Kraft und Konzentration brauchen werden. Ausserdem will ich den Rest meiner Reise auch noch auf eine irgendwie machbare Art geniessen können. Ich nehme mir vor, wenn immer möglich meine Energie nicht an Groll oder an Spiegelfechtereien zu verschwenden.
Mit diesen guten Vorsätzen im Kopf mache ich mich auf den Rückweg zum Alaska Highway 1. An der nächsten Kreuzung sitzt - wie so häufig in den USA - ein Veteran in einem etwas heruntergekommenen Zustand. Auf dem Schild, das er vor sich hingestellt hat, bittet er um Geld. Es dauert einen Moment, bis ich merke, dass gerade dieser Veteran mir wird helfen können. Nach der Kreuzung halte ich an, suche mein ganzes restliches US-Dollar-Bargeld zusammen, gehe zurück zu dem Veteranen und lege ihm meine restlichen vierzig Dollar in seinen Hut mit der Bemerkung, dass ich das Geld nicht mehr werde brauchen können, ganz im Gegensatz zu ihm. So, das habe ich gut gemacht. Meine geschundene Stimmung hellt sich auf. Mit diesem seelischen Rückenwind fahre ich wieder weg aus der Stadt Anchorage, von der ich glaubte, dass sie der Endpunkt meiner Reise sei.
Schon bei der Anreise gestern Abend hat mich die Landschaft des Matanuska Rivers beeindruckt. Allerdings hatte ich weder Lust noch Kraft, um ab und zu einen Fotohalt einzulegen. Das hole ich heute nach. Das breite, sandige Flussbett, das in einem weiten Bogen aus den mattgrünen Wäldern und den hohen, spitzigen Bergen hervorkommt, hat etwas majestätisch Imposantes. Der Matanuska-Gletscher weiter oben ist zwar nicht ganz so gross, wie ich ihn von gestern Nachmittag in Erinnerung hatte, aber ungeachtet dessen zeigt er ein eindrückliches Naturschauspiel. Auch in umgekehrter Richtung lässt die Fahrt am Nordhang des Matanuska Rivers mein Motorradfahrerherz höher schlagen. Später höre ich dann von einem erfahrenen Alaskabesucher, dass diese Strecke hier wahrscheinlich die schönste Motorradstrecke in Alaska ist.
Als ich am Matanuska Gletscher vorbei bin schaue ich noch einmal zurück. Der Frau von Lot ist das Zurückschauen seinerzeit nicht gut bekommen, aber mir hat es ja auch niemand verboten, und darum erstarre ich auch nicht zur Salzsäule. Ganz im Gegenteil, was ich da per Zufall sehe bringt mich zum Lachen. Unten im Tal, am Fuss des Matanuska Gletschers, ragt ein ziemlich grosser Felsen empor, und dieser Felsen trägt oben gleich neben seiner Spitze eine gut sichtbare Beule. Es ist halt doch so, wie ich auf der Fahrt zwischen Page und Bicknell vermutet hatte: Die USA sind ganz offensichtlich das Bergbaulabor des lieben Gottes gewesen. Mit grösster Wahrscheinlichkeit hat er hier beim Bauen dieses Felsen mit irgendetwas Hartem zu heftig auf die Felsspitze geschlagen. Weil das zu einer Zeit war, als die Materie noch lebendiger und beweglicher war, ist dem Felsen von diesem Schlag eine Beule gewachsen. So ist, ohne dass der Liebe Gott das so geplant hatte, der Felsen zu einem Zeugen geworden für eine bessere Zeit. Wann gibt es das noch in unseren Tagen, dass wir jemanden sehen, der an seinem harten Kopf eine Beule trägt? Wenn ich als Kind mit dem Kopf irgendwo angestossen bin und mir deswegen eine Beule gewachsen ist, dann haben mich die Erwachsenen immer gefragt, was ich denn da am Kopf gemacht hätte. Natürlich haben die alle genau gewusst, dass ich mit dem Kopf irgendwo dagegen gestossen bin. Sie haben sich mit ihrer Frage einfach ein bisschen lustig über mich gemacht, und das hat auch etwas genützt. Ich bin nämlich vorsichtiger geworden und schlage mit dem Kopf nur noch selten an. Wäre insbesondere die harte Materie auch in unseren Tagen noch so lebendig beweglich wie zu Zeiten des Bergbau-Labors des lieben Gottes, dann könnten wir heute immer wieder ganz schöne Szenen beobachten. Wir würden vielleicht in einem Youtube-Videoclip sehen, wie ein uralter US-Veteran fragt: "Donald, ist das eine Beule da an deinem Kopf? Wo bist du denn da schon wieder dagegen angerannt?" Oder es gäbe einen Clip, in dem Sarah Palin etwas feixend fragt: "Hillary, ich kenne dich gar nicht so stark geschminkt. Ist das da eine Beule unter dieser dicken Makeup-Schicht?" Vielleicht wären die grossen Dickköpfigen dieser Welt ein wenig vorsichtiger, wenn sie damit rechnen müssten, dass sie immer dann eine Beule davontragen, wenn sie sich wieder einmal so richtig durchgesetzt haben. Zwar habe ich heute eine lange Strecke zu fahren und sollte darum nicht so viel Zeit für irgendwelche Geschichten vertrödeln, aber dieser Blick zurück hat sich gelohnt.
Etwa zehn Meilen nach Glenallen biege ich ab nach Nordosten und fahre von da an in die Richtung von Tok. Die Strasse wird schmaler. Zwar gibt es hier noch lange immer wieder vereinzelte Häuser, aber es wird hier etwas einsamer und rauer als auf der Fahrt gestern von Delta Junction nach Süden.
Auf der Fahrt über die Brücke des Chistochina River finde ich mich plötzlich mitten im Flussbett, fast auf dem Wasser. Als die Strasse dann aus dem ebenen Gelände hinein in die Berge führt bekommt die Umgebung etwas Bedrohliches. Alles wirkt noch rauer, nordischer und einsamer. Wie zur Bestätigung zieht auch noch eine dichte, dunkle Wolkendecke zieht auf. Es ist schon Nachmittag, die Fahrt ist anstrengend, und sie wird auch noch eine ganze Weile dauern. Meine Stimmung sinkt und ich fange an, mir Sorgen über meine Ausreise aus den USA und meine Einreise in Kanada zu machen. Ob ich bei der US-Behörde noch einmal halten muss? Muss ich die informieren, dass ich fristgerecht ausgereist bin? Und wenn ja, werden die mir dabei Schwierigkeiten machen? Wird mich die kanadische Grenzbehörde einreisen lassen, wenn sie sehen, dass meine Aufenthaltserlaubnis für die USA abgelaufen ist? Und wenn ich in Kanada nicht einreisen darf, muss ich dann im Niemandsland zwischen der amerikanischen und der kanadischen Grenzstation campieren? Für immer?
Es ist höchste Zeit für eine Verpflegungspause. Mit etwas Wasser und Trockenfrüchten lassen sich die bösen Geister mindestens bis zum Horizont vertreiben. Kurz vor Tok habe ich dann zum ersten Mal die Gelegenheit, zwei Elche ganz nahe beim Äsen am Strassenrand beobachten zu können. Diese grossen und mächtigen Tiere wirken so ruhig und stark wie Elefanten. Aber eigenartigerweise schreckt sie schon die geringste Veränderung in der Umgebung auf, verunsichert sie sichtlich und lässt sie zur Flucht ansetzen. Ich habe Glück, dass ich sie mit meinen Bewegungen nicht vertreibe.
In Tok biege ich dann wieder auf den Alaska Highway ein und fahre auf der bereits bekannten Strecke zurück in Richtung Osten nach Kanada. Es ist erst vorgestern gewesen, als ich hier durchgefahren bin. Wieder komme ich am Wegweiser vorbei, der die Abzweigung nach Dawson City anzeigt, dort, wo der „Top of the World“ – Highway beginnt. Die Erinnerung an die schöne Strecke, insbesondere an den Galopp über die Schotterpiste, bringt mich zum lächeln.
Eineinhalb Stunden später stehe ich wieder am Alcan-Grenzübergang. Wie geplant will ich mich bei der US-Behörde erkundigen, ob ich meine Ausreise melden muss. Und schon wieder werde ich von einem Customs Officer angeblafft, weil ich als Fussgänger nicht über die Fahrspur laufen darf. Offenbar gehört das Blaffen einfach zu den Ritualen der US Grenzbehörde. Es beeindruckt mich heute nicht so sehr. Um meine Frage stellen zu können muss ich ins Büro der Grenzbehörde, nicht ohne vorher zu versichern, dass ich keine Waffen bei mir trage. Meine Vorgesetzten in der Rekrutenschule vor vielen Jahren haben auf der Vorstellung bestanden, dass zu den Waffen eines Schweizer Soldaten auch das Taschenmesser und das Stück Schnur gehören, die man immer bei sich tragen musste. Diese Vorstellung wäre mir hier echt zum Verhängnis geworden. Ich weiss zwar immer noch nicht so recht, was ich von der letzten Filmrolle von Robert de Niro halten soll, aber älter werden hat auch ganz klar Vorteile. Nein, ich trage keine Waffen bei mir. Der US Customs Officer im Büro erklärt mir dann ganz ruhig und ohne herumzublaffen, dass ich mich nicht abmelden muss. Die US-Behörden werden auch so von meiner rechtzeitigen Ausreise erfahren.
20 Meilen später bei der kanadischen Grenzbehörde ist das ganz anders. Der kanadische Grenzbeamte schaut sich meine Papiere an, wechselt mit mir ein paar Worte über Olga, und schmunzelt, als er sieht, dass ich am allerletzten Tag meiner Aufenthaltserlaubnis aus den USA ausgereist bin. Als ich ihm meine Geschichte mit dem Visum erzähle schaut er mich ungläubig an. Er schüttelt den Kopf und meint, der US-Beamte hätte ja nur einen Stempel in meinen Pass machen und da ein neues Datum eintragen müssen. Wozu es wohl diesen ganzen Aufstand gebraucht hätte? Ich bin froh, das zu hören. Es hilft mir zwar nicht direkt weiter, aber es bestätigt mich zumindest darin, dass ich meine Hausaufgaben zu Hause gemacht und richtig recherchiert hatte. Vor allem aber bin ich erleichtert, dass ich rechtzeitig aus den USA ausgereist bin und dass die Einreise nach Kanada so freundlich und einfach verlaufen ist. Und jetzt bin ich wieder in Kanada, wo mir keine Ausreisefrist droht, und wo ich in aller Ruhe die nächsten Schritte planen kann.
Bis Beaver Creek sind es nur noch ein paar Minuten. Die Besitzer des Motels erkennen mich gleich wieder. Nach dieser langen Fahrt durch die stellenweise etwas bedrohliche Abgeschiedenheit tut es mir einfach gut, jetzt wieder ganz ohne Zeitdruck und ziemlich entspannt mit anderen Menschen etwas belanglos zu plaudern. Mein Eindruck von vor ein paar Wochen bestätigt sich: In Kanada fühlt es sich einfach irgendwie entspannter an.
Beim Überprüfen meiner Mails heute Abend sehe ich, dass Tom Ganner, mein Vermieter in Haines, mir ein Mail geschrieben hat. Tom und Carolyn haben am Freitagmorgen nach meiner Abreise die Ferienwohnung für die neuen Gäste vorbereitet. Sie haben aber den Wohnungsschlüssel nicht gefunden und darum vermutet, dass ich vergessen hätte, ihn hinzulegen. Sie sind dann kurz weggegangen, und haben bei ihrer Rückkehr den Schlüssel an seinem Platz in der Ferienwohnung vorgefunden. Das hat sie in ihrer Annahme bestärkt, dass ich den Schlüssel mitgenommen habe. Ganz offensichtlich hätte ich mein Versäumnis bemerkt, sei noch einmal zurückgekommen und hätte den Schlüssel in ihrer Abwesenheit in der Ferienwohnung deponiert, vermutet Tom und bedankt sich in seinem Mail sehr dafür. Ich weiss zwar nicht, was ich in Wirklichkeit getan hätte, wenn ich den Schlüssel plötzlich in einer meiner Taschen gefunden hätte. Aber das muss mich auch gar nicht kümmern, weil es nicht so gewesen ist. Ich schreibe an Tom, dass ich froh bin, dass sie ihren Schlüssel wieder haben, dass ich ihn aber nicht mitgenommen habe und darum auch nicht noch einmal zurückgekehrt bin. Die Antwort von Tom kommt postwendend: Er kann es nicht glauben. So kann es einem mit Sam Hawkins eben gehen.