Abschied

Mein Flug von Anchorage nach Chicago geht zwar erst heute Abend. Mein Hotelzimmer muss ich aber vor dem Mittag schon geräumt haben. Gegen elf Uhr bestelle ich mir ein Taxi, das mich zum Flughafen bringen soll. Vorher schaue ich aber noch kurz bei Andrew vom Motorcycle Shop vorbei. Ich möchte gerne mein Nummernschild mit nach Hause nehmen und es in meinem Zimmer aufhängen. Jeden Morgen beim Aufstehen würde ich mich an die tolle Zeit hier erinnern. Und jeden Abend beim Schlafengehen wäre ich froh, mein eigenes Bett zu haben. So stelle ich mir das vor. Aber Andrew winkt bedauernd ab. Das Schild muss zurück nach Kalifornien. Schade.

Eines der Restaurants am Flughafen von Anchorage bietet helle Fensterplätze mit Ausblick auf den Flugbetrieb. Neun Stunden verbringe ich hier. Zufrieden schaue ich den Flugzeugen beim Starten und Landen zu und arbeite an meinem Blog. Gegen Abend passiere ich die Sicherheitskontrolle. Wie überall und immer lege ich zuerst alles Metallische ab, gehe durch die Schleuse und lege dann alles Metallische wieder an. Nur meinen Rucksack vermisse ich. Einer der Customs Officer hebt den Rucksack hoch und ruft nach seinem Besitzer. Mich beschleicht ein unangenehmes Gefühl. Gibt das hier etwa ein Déja vu? Er komme gleich zu mir, er müsse nur kurz etwas überprüfen, meint der Customs Officer. Plötzlich weiss ich, was los ist und muss über mich selber lachen. Ich wollte doch gestern Abend eine Singleparty geben, bin aber schon nach dem ersten Bier eingeschlafen. Mit meinem restlichen Biervorrat wollte ich mir dann heute den Aufenthalt am Flughafen verkürzen, habe aber nicht mehr daran gedacht. Jetzt zieht der Customs Officer die beiden Bierdosen aus meinem Rucksack und wirft sie mit einem bedauernden Schulterzucken in den Müll. Schade.

Im Flugzeug nach Chicago ist jeder Platz besetzt. Sechs Stunden lang sitze ich in dieser stickigen und engen Kabine. An Schlaf ist dabei nicht zu denken. Früh am Samstagmorgen landen wir endlich in Chicago. Wenn ich hier irgendwo schlafen oder duschen möchte, dann müsste ich mir für teures Geld ein Hotelzimmer nehmen. Das ist es mir nicht wert. Am Abend sitze ich dann endlich auf einem komfortablen Platz und fliege nach Hause.

Ich bin froh, dass ich für Olga einen guten Platz gefunden habe. Meine Reise hat jetzt ein gutes Ende gefunden. Mehr als drei Monate lang bin ich mit dem Motorrad quer durch den Westen Nordamerikas, von San Diego im Süden bis nach Anchorage im Norden gefahren. Manchmal habe ich mich gefragt, was wohl sein wird, wenn ich in Anchorage angekommen bin und mein alter Traum Wirklichkeit geworden ist. Jetzt, wo alles gut herausgekommen ist, weiss ich es. Es ist ganz einfach: Wenn sich ein Traum erfüllt hat, dann bleiben die Erinnerungen zurück - an den ursprünglichen Traum, an die Reise, an die Erlebnisse, an die Geschichten, die ich unterwegs mitbekommen habe, an die Momente von verstehen wollen, von nicht verstehen können und an die Zeichen von Freundschaft und Verbundenheit. Erinnerungen, die mich immer wieder verträumt dreinschauen lassen und zum Lächeln bringen. Hoffentlich noch ganz lange. Und sollte mich jemand fragen: Also, ich würde es wieder machen.

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