Am Anfang meiner Reise hatte ich Mühe, das Englisch hier in Nordamerika zu verstehen. Ich sehe noch einige Situationen vor mir, wo ich ganz sympathisch angesprochen worden bin und dann - nachdem ich auch einfache Dinge nicht recht verstanden habe - bald wieder alleine dagestanden bin. Umso mehr war ich stolz, ja fast begeistert, als mich zwei Wochen später an einer Tankstelle irgendwo in New Mexico ein Pickup-Fahrer gefragt hat: "Uayahädadah?", und ich ihn plötzlich verstanden und spontan richtig geantwortet habe: "Durango!"
"Uayahädadah" ist die umgangssprachliche Form für "Where are you headed to?", also "Wohin gehst du?". Über diese Redewendung habe ich mich zuerst köstlich amüsiert, bis ich beim Verfassen des entsprechenden Blog-Beitrages gemerkt habe, dass in meinem Dialekt die entsprechende Redewendung genau gleich zu einem Klangmus verschmiert wird. "Unwoigoz" ist in meinem Dialekt die umgangssprachliche Form für "Und wohin geht es?", und sie ist genauso zusammengedrückt, abgeschliffen und unverständlich wie "Uayahädadah".
Nun ist es sicher so, dass in beiden Sprachen, im Englischen und im schweizerdeutschen Dialekt, einige umgangssprachliche Redewendungen sprachlich bis zur Unverständlichkeit abgeschliffen werden. Das sollte aber nicht darüber hinweg täuschen, dass diese beiden Redewendungen für völlig verschiedene Welten stehen.
"Unwoigoz" gehört zu einer Welt, die einen Durchmesser von vielleicht 150 km hat, und in der man sich nicht darüber einigen kann, ob man den schwarzweissen diebischen Vogel "Agetsche", "Ägetsche", "Ägeschte", "Öuschtere", "Euschtere" oder "Elschtere" nennen soll.
Die Welt von "Uayahädadah" ist da ganz anders. Diese Welt wird in tausenden von Meilen gemessen. In dieser Welt spielt es überhaupt keine Rolle, ob man sich darüber einigen kann, wie man einen Vogel nennt. In dieser Welt ist es nicht wichtig, dass man sich einigt, sondern dass man sich durchsetzt. Genau genommen ist es so: Entweder setzt man sich hier durch, oder man geht unter. Diese Welt hier geht immer nach ihrer Regel vor, egal wo sie sich gerade befindet, egal aus welcher anderen Welt man kommt.
Die Indianer am Columbia River haben das zu spät erfahren, und die Staudämme und die verlassenen Ufer bezeugen das still.
Chief Joseph und seine Nez Perces Indianer haben es zu spät erfahren, und die Geschichte der Nez Perces, ihr mickriges Reservat, und die letzte grosse Rede von Chief Joseph bezeugen das still.
Mohammad Mossadegh in Persien und Salvador Allende in Chile haben erfahren wie das ist, wenn diese Welt sich letztlich egal wo in dieser Welt durchsetzt. Beide sind schon lange still.
Mohamed, der liebenswürdige Security-Mann im Hotel in Seattle, erfährt das auch gerade. Er hat zwar kurz den Mantel des Schweigens angehoben, aber er bleibt meistens still und ist froh, dass er seine Arbeit hat.
Im Gegensatz zur kleinen, introvertierten Welt von "Unwoigoz" ist die Welt von "Uayahädadah" riesig. Stets gibt sie sich extrovertiert. Stets beweist sie ihre Stärke. Stets zeigt sie ihre Grösse. Ist das nur hier in den USA so? Oder ist das einfach bei den grossen Nationen so? Gibt es denn keine anderen grossen Staaten, die sowohl nach innen als auch nach aussen rücksichtsvoll geführt werden? Ich habe danach gesucht, aber nichts gefunden.
Im alten chinesischen Kaiserreich hat man den herrschenden Kaiser am Zustand des Gelben Flusses gemessen. Solange die Dämme und Schleusen des Yang tse unterhalten und ausgebaut wurden, blieb der Fluss in seinem Bett. Die zerstörerischen Überschwemmungen blieben aus. Damit wurde zwar die Führungskraft des chinesischen Kaisers gemessen, aber nicht seine Menschlichkeit. Auch das alte chinesische Kaiserreich hat seine Grösse vor allem in seiner Grösse gesehen. Es hat Erfolg, Einfluss und eine gut funktionierende Organisationsform gesucht. So war es übrigens auch in den anderen grossen Reichen der Geschichte: Die Ägypter, Perser, Römer, Spanier und Engländer haben es genauso gemacht. Und genauso tun es auch heute noch die USA, Russland, China und die grossen europäischen Staaten. Ich habe keinen grossen Staat gefunden, der sich in erster Linie dem Wohl seiner Bürgerinnen und Bürger und der Fairness im Umgang mit Anderen verpflicht hat. Je grösser ein Staat ist, desto schlechter sorgt er für seine Bürgerinnen und Bürger, und desto unfairer verhält er sich im Umgang mit anderen Ländern. Das schein das einfache Fazit zu sein. Vielleicht geht es sogar noch weiter: Vielleicht ist es fast zwingend so, dass grosse Staaten sich immer schlecht benehmen, weil ihre Regierungen so sehr damit beschäftigt sind, ihre Macht und Grösse zu bewahren.
Müsste man den Bürgerinnen und Bürgern also empfehlen, sich möglichst in Kleinstaaten zu organisieren? Ich bin mir nicht sicher, aber ich würd's ausprobieren.
Wohlverstanden: Ich werde den Teufel tun und hurrapatriotisch ein Loblied auf den Humanismus des Kleinstaates Schweiz singen. Aber ich stehe dazu: Ich verfolge mit Lust und Verve die sprachlichen Unterschiede und Auseinandersetzungen der helvetischen Kleinregionen. Ich mache mich auch ab und zu darüber lustig und ich streite mich auch manchmal darüber. Vor allem aber bin ich mir sicher, dass diese alltäglichen Formen der Auseinandersetzung das friedliche Zusammenleben letztlich fördern. Und um Gegensatz dazu tut dies die Schaffung von politischen Grossräumen wahrscheinlich eben nicht. Der Föderalismus in der Schweiz führt dazu, dass wir alle 30 km ein anderes Waffenrecht, ein anderes Steuersystem, ein anderes Schulsystem und eine andere Polizeiorganisation haben. Ich glaube, dass die Gefahr eines grössenwahnsinnigen Militarismus durch diese Kleinräumigkeit besser gebannt wird als durch so manches strategisch wichtige Friedensförderungsprojekt. Natürlich treiben mich das Champignonprinzip und der Konservativismus in der Schweiz manchmal beinahe zur Verzweiflung. Aber solange der Föderalismus als Sperrriegel gegen Machtgelüste und als Abwehrhaltung gegegn ein Wachstum um der Grösse willen dient, bin ich damit einverstanden.
Nordamerika ist ja fast unendlichen gross. Die Grösse, die Weite, die Landschaften und die Spuren der Geschichte beeindrucken mich tief. Sie wecken in mir Sehnsucht, Verbundenheit und Zuneigung. Das ändert aber nichts daran, dass ich eben ein Kleiner bin und aus einem kleinen Land komme. Und es ist gut für mich, wenn ich das nicht vergesse. Wahrscheinlich ist es gerade diese Ambivalenz zwischen Sehnsucht nach Grösse und Bekenntnis zum Kleinen, die bei mir ab und zu Stirnrunzeln, Ablehnung und Kritik hervorruft. Aber eigentlich wäre es mir lieber, wenn sie mich zum Nachfragen oder zum Nachdenken bringen würde.
"Uayahädadah", das hat die Menschen hier in diesen grossen Ländern und mich aus einem kleinen Land miteinander in Kontakt gebracht. Und das hat unbestritten zu meinen besten Erlebnissen hier geführt. Ausserdem ist "Uayahädadah" immer auch ein ganz zuverlässiges Unterscheidungsmerkmal gewesen. Schliesslich hat man mir immer und sofort angemerkt, dass ich nicht von hier bin - vielleicht deshalb, weil ich bei "Uayahädadah" immer auch schmunzeln musste.
Wenn ich es mir aber richtig überlege, dann ist "Uayahädadah" eigentlich zum magischen Wort meiner Reise geworden. Das klingt vielleicht ein bisschen seltsam, aber warum auch nicht? Und vor allem: Wo, wenn nicht hier?
Hier, im Land der Indianer oder der First Nations, hier ist ein Falke neben mir her geflogen und hat auf einem Baumwipfel auf mich gewartet, als ich extra angehalten habe. In diesem Land hier ist ein Grizzly für einige Momente mit einem unglaublichen Tempo neben mir und meinem Motorrad her gerannt. In Alaska und in den Yukon Territories bin ich auf die verrückte Idee gekommen, dass sich der Falke oder der Bär mir als meine Totemtiere gezeigt haben. In Arizona habe ich in den roten Felsen meine Vorfahren gesehen und habe sozialkritische indianisch-eurpäische Stimmen gehört. All das würde ich doch zu Hause nie erleben. Und sowas würde mir zu Hause auch nie in den Sinn kommen. Aber hier hat all das ja auch etwas mit der Wiklichkeit zu tun. Hier hat mir ein Glückskeks ja auch ein tolles Einkommen versprochen, und am nächsten Tag habe ich einen tollen Job bekommen. Warum also sollte "Uayahädadah" nicht das magische Wort sein, das ich auf dieser Reise gefunden habe? Und abgesehen von Falke, Grizzly, rotem Felsen und Glückskeks:
"Uayahädadah" steht auf jeden Fall für die magische Balance zwischen den Polen, die ich hier erlebe: Trennende Distanz und verbindendes Gemeinsames, Fremdes und Vertrautes, Fremde und Heimat, Weite und Enge, Ablehnung und Verständnis, Stirnrunzeln und Nachfühlen können.
Am Ende meiner Reise habe ich in Kanada etwas gefunden, das mir gezeigt hat, dass hier schon immer Gegensätze und Polaritäten aufeinander getroffen sind. Ich bin ich auf die Inukshuit gestossen, auf Steinfiguren, die auf die First Nations zurückgehen. Eine solche Steinfigur wird Inukshuk genannt, in der Mehrzahl heissen sie Inukshuit. In Jade City habe ich diese Figuren zum ersten Mal im Kleinformat gesehen. Inukshuit aus Jade werden dort den Touristen zu stolzen Preisen angeboten.
Die richtigen Inukshuit hingegen sind von den Inuit - und auch schon von den Völkern vor ihnen - als überlebensgrosse Steinfiguren in der Landschaft aufgestellt worden. Noch immer stehen an vielen Orten in Kanada solche Figuren in der Landschaft und erfüllen eine wichtige Aufgabe: Sie weisen die Bewohner des Landes auf wichtige Orte hin wie Täler, Pässe, Durchgänge, Furten, Wege, Wassser-, Fisch- oder Jagdplätze und weiteres mehr. Die Inukshuit sind also unübersehbare Orientierungspunkte und Wegweiser in der Landschaft. Und sie geben allen, die hier durchkommen, überlebenswichtige Hinweise auf Nahrung und Wasser und auf Chancen und Gefahren. Die Inuit haben noch im 19. Jahrhundert über keine eigene Schriftsprache verfügt. Stattdessen haben sie mit den Inukshuit ihr überlebenswichtiges Wissen kraftvoll und unübersehbar in der Landschaft dargestellt. Wer immer sie lesen und verstehen wollte konnte sich an den Inukshuit orientieren und so in diesem Land überleben, egal ob Inuit oder Fremde.
Bei den olympischen Winterspielen 2010 in Vancouver wurde übrigens die Figur eines Inukshuk als Logo verwendet. Dadurch sind diese Steinfiguren weit herum bekannt geworden. An der Westküste von Kanada gibt es offenbar nur einen einzigen richtigen Inukshuk, der sich in der Nähe meiner Reiseroute befindet. Der steht im Skigebiet von Whistler. Dort bin ich Mitte Mai durchgefahren und habe mich gar nicht danach umgeschaut. Zu dem Zeitpunkt hatte ich ja noch gar nichts von den Inukshuit gehört. Die meisten Inukshuit scheinen in Nunavuq zu stehen, der Inuit-Provinz im Nordosten von Kanada, also auf der anderen Seite des Kontinents.
Am 31. Mai 2016 ist meine Aufenthaltsgenehmigung für die USA abgelaufen. Unter Hochspannung bin ich an dem Tag die lange Strecke von Anchorage nach Beaver Creek gefahren, weil ich die USA unbedingt rechtzeitig verlassen wollte. Am Tag darauf hat die Anspannung dann etwas nachgelassen. Weil schönes Wetter war und ich keinen Zeitdruck mehr hatte, habe ich mir ein bisschen Zeit genommen und etwas über die Inukshuit gelesen. Unter dem strahlend blauen Himmel von Beaver Creek hat sich meine Stimmung vom Stress der vorangehenden Tage wieder etwas erholt. In dieser Situation haben mich die Geschichten über die Inuit und ihre Inukshuit sehr berührt. Sie haben mich in eine sehr viel leisere Welt versetzt, in der es um Einfachheit, Vorsicht, Rücksichtnahme und Zusammenhalt ging. Über Jahrhunderte, über Generationen und über tausende von Meilen hinweg haben die First Nations ihre Steinfiguren gebaut und damit jedem, der es sehen und verstehen wollte, überlebenswichtige Hinweise zur Verfügung gestellt.
Schon im Land der Navajos, in New Mexico und Arizona, habe ich mich ganz eigenartig in eine andere Welt hineingezogen gefühlt. Ganz ähnlich ist es mir in Kanada im Land der First Nations und der Inuit gegangen. Es ist, wie wenn ich hier im Land der kanadischen Urbevölkerung zuerst zu meinen Totemtieren, dann zu einem magischen Wort und schliesslich noch zu so etwas wie meiner Medizin gekommen wäre. Ich habe die Inukshuit gefunden, überlebenswichtige Wegweiser auf meiner Reise durch die Welt, in der ich lebe, und gleichzeitig ein Zeichen dafür, dass ich meinen Wurzeln und meinen Ahnen in Dankbarkeit und Respekt verbunden bin.
Als ich vor drei Monaten hierher gekommen bin war ich ein alter, arbeitsloser Mann, der seinen Traum verwirklichen wollte, solange es noch geht. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann kommt es mir eher so vor, als wäre ich wie einst die jungen Indianer unterwegs gewesen und hätte nach den Insignien gesucht, die mich als erwachsenen Krieger ausweisen. Meine Reise hat auf jeden Fall mehrfach ein gutes Ende gefunden: Es ist alles gut gegangen, ich habe meinen Traum verwirklicht und ich bin nicht mehr arbeitslos. Ob da der grosse Geist der alten Völker am Werk war, oder ob der verwirrte Geist eines alten weissen Mannes nach Sinn gesucht hat, kann ruhig offen bleiben.
Als ich am 1. Juni meine Nachforschungen über die Inukshuit abgeschlossen hatte, habe ich wie immer gepackt und bin dann von Beaver Creek weiter nach Whitehorse gefahren. Die nachlassende Anspannung, die Einsamkeit und die unendliche Weite der Yukon Territories und auch die Wärme und das schöne Wetter werden ihren Teil zu meiner Stimmung beigetragen haben. Auf jeden Fall hat sich in mir ein besonderes Gefühl von Erdverbundenheit und von Klarheit in der Ausrichtung eingestellt. Es war, als ob ich mit beiden Füssen auf der Mutter Erde stehen und ganz klar in die richtige Richtung schauen würde, die mir vielleicht gerade vorher mein magischer Inukshuk gezeigt hätte.
Dieses Gefühl von Erdverbundenheit und klarer Ausrichtung erlebe ich ganz selten. Wenn es aber unverhofft einmal da ist, dann ist das immer ein ganz besonderer Augenblick. Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass ich ein Secondo bin. Ich bin zwar in der Schweiz geboren und aufgewachsen, aber meine Eltern sind als Fremde hierhergekommen. Wie die meisten Secondos bin ich eher von einem Gefühl der Fremdheit und Trennung bestimmt. Da wo ich herkomme, da ist nicht meine Heimat, und da, wo meine Heimat ist, da komme ich nicht her. Nur ganz selten habe ich das Gefühl, dass ich am richtigen Ort stehe, dass ich beide Füsse fest auf dem Boden habe, dass ich in die richtige Richtung schaue und dass es richtig ist, so wie es ist.
Nicht so auf dieser Fahrt unter der hellen, warmen Sonne der weiten Yukon Territories. Hier hat sich dieses andere, seltene Gefühl eingestellt. Hier habe ich unverhofft und langsam eine Ahnung davon gekriegt, dass ich wahrscheinlich auch als Fremder meinen Platz auf der guten alten Mutter Erde habe. Da hat unverhofft plöttzlich alles gepasst.
Chris Rea hat vor vielen Jahren den Song "Blue Café" geschrieben. Darin lässt er diese Sehnsucht nach Orientierung, nach Neuem und Vertrautem, nach dem Zusammengehen von Alt und Jung, nach einem festen Platz und nach dem Aufbruch zu neuen Ufern, ziemlich gut aufklingen:
Der Tag nach meiner Hals-über-Kopf-Ausreise aus den USA ist unverhofft zu meinem letzten richtigen Reisetag geworden. Rückblickend haben der strahlend blauen Himmel, die Wärme, die Entspannung und die weite Weite der Yukon Territories eine wunderbare Schluss-Szenerie gebildet. Aber nicht nur das. Es war, als ob der Falke, der Grizzly, der grosse Inukshuk und der magische Ruf "Uayahädadah" mir meinen Platz in der Weite des Lebens gezeigt hätten. So viele Erinnerungen, Ideen, Gedanken und Gefühlen haben sich langsam zu einem Ganzen zusammengefügt. Als ich dann bei einer Baustelle auf die Weiterfahrt warten musste, habe ich die Gelegenheit genutzt und es festgehalten:
usrichtig
was wäri ächt, wenn är nid wär?
i gloub, 's wär würklech wüescht und läär.
was aber wär, wenn sie nid wär?
i gloub, i giengti hin und här,
hätt weder bode, richtig, zyt,
ou üsi drü, die gäbt's gar nid.
's wär so mängs nume ungefähr,
und miecht mer's läbe ärdeschwär.
i bi so froh, hesch mi lo goh,
und i bi so gärn umecho!