Happy Camp – Redding

Ich habe eine unruhige Nacht verbracht. Auf dem Dach des Motels haben irgendwelche Tiere Cha-Cha-Cha getanzt und im Innenhof hat es immer wieder Geräusche gegeben, wie wenn laufend Gäste angekommen und wieder fortgefahren wären. Meine Stimmung kann man am besten mit "Gut gelaunt mit kleinen Augen" bezeichnen.

Nach dem durchzogenen Wetter von gestern ist der Himmel heute wieder strahlendblau. Es ist angenehm warm heute. Obwohl ich gestern den Eindruck hatte, als würde ich stundenlang hoch hinauf in die Berge fahren liegt Happy Camp nur auf einer Höhe von etwa 500 m. Nach dem Frühstück draussen an der Sonne schaue ich mich zu Fuss die nähere Umgebung des Motels an. Gemäss Google Maps soll es gleich neben dem Motel eine Tankstelle geben. Tatsächlich gibt es etwa in 50 m Entfernung eine Lichtung. Da stehen auf einem Betonsockel zwei einsame Zapfsäulen zusammen mit einem Geldautomaten. Die Tankstelle ist also unbedient. Wenn da meine Kreditkarte nicht akzeptiert wird, dann muss ich sehen, woher ich hier Benzin kriege. Um das gleich zu testen hole ich Olga und meine Kreditkarte.
Zurück bei der Tankstelle sind beide Zapfsäulen besetzt. Vor mir hantiert ein alter Mann am Kreditkartenterminal. Er trägt eine runde Drahtbrille, einen weissen Geissbart und er spricht mit einer hohen Fistelstimme. Ich bin mir nicht sicher, ob er mit mir redet oder nur mit sich und trete deshalb etwas näher. Offenbar spricht er mit sich selber, hat aber nichts dagegen, wenn ihm jemand zuhört. Das kenne ich von mir selber, diesen Übergang vom Selbstgespräch zur Kontaktaufnahme. Das Problem liegt beim uralten Einzeilen-Display des Terminals. Das Glas ist schon ziemlich verwittert. und die Leuchtdioden funktionieren nicht mehr so recht. Jetzt, wo die Morgensonne voll auf diese Displayzeile scheint, kann man beim besten Willen nicht erkennen, was auf diesem Display stehen soll. Ich helfe, das Terminal so abzuschirmen, dass ich schliesslich erkennen kann, was da drauf steht: Man soll den Code eingeben und dann an Säule drei Tanken. Der alte Mann bedankt sich ganz freundlich und beginnt, seinen alten Pickup zu betanken.
Jetzt versuche ich mein Glück mit meiner Kreditkarte. Ich kann zwar lesen, was da auf dem verwitterten Display steht, es gefällt mir aber nicht. Meine Kreditkarte wird hier nämlich nicht akzeptiert. Der alte Mann schaut mir nur kurz zu und fragt dann gar nicht erst, ob er mir helfen könne. Er fragt direkt, wieviel Benzin ich denn brauche. Ganz offensichtlich sind es nur seine Augen, die nicht mehr so gut funktionieren. Mit seinem Kopf und seinem Herz ist noch alles in Ordnung. Ich brauche etwa zwei Gallons, also um die zehn Liter, damit ich die 100 Meilen bis zur nächsten normalen Tankstelle fahren kann. Der alte Mann drückt mir den Zapfschlauch in die Hand und sagt, ich soll nehmen was ich brauche. Als ich mich bedanke und ihm das Geld für das Benzin geben will, lacht er mit seiner hohen Stimme: „No no, thank you for your help“, und fährt davon. Auch wenn es nur um die paar Doller für die zwei Gallons Benzin geht komme ich mir doch ein wenig vor wie in einem Märchen, so wie die Glücksmarie bei Frau Holle. Wenn ich heute unterwegs bin, dann werde ich gut aufpassen, ob ich da nicht auch noch von reifen Obstbäumen oder von frei lebenden Backöfen um Hilfe gebeten werde.

Zurück im Motel ist es Zeit um zu packen und zu laden. Mein Zimmernachbar ist auch gerade dabei, sich reisefertig zu machen. Als er mich sieht stellt er die dritte Frage auf meinem imaginären Kontaktformular: „Uayahädada?“ Nachdem das ganz schnell geklärt ist fragt er mich, ob ich schon einmal etwas von Bigfoot gehört habe. Dabei meint er nicht den Bigfoot Highway, sondern den richtigen Bigfoot. Er fordert mich auf, mit ihm mitzukommen. Ist das etwa schon die Fortsetzung des Märchens von Frau Holle? Muss ich als Glücksmarie mit ihm mitgehen und ihm etwas helfen und werde dann dafür wieder reich belohnt? Nein, es ist überhaupt nicht so. Es ist im Gegenteil eher so wie mit der Hexe bei Hänsel und Gretel, nur dass mich der Zimmernachbar nicht mästen und schlachten will. Er braucht dringend einen Zuhörer für sein Lieblingsthema, und ich bin der Auserwählte, den er da einweihen will, nämlich in die geheimnisvolle Lehre von Bigfoot. In seinem Zimmer zeigt er mir Gipsabdrücke von „Fusspuren“ von Bigfoot und beginnt zu erzählen, wie er auf die Forschung über Bigfoot gekommen ist. Eigentlich hat er ursprünglich mit der ganzen Bigfoot-Saga gar nichts am Hut gehabt. Aber dann hat er per Zufall auf einem Bigfoot-Kongress zwei Forscher kennengelernt. Die haben ihm so unglaubliche Sachen erzählt und Dinge gezeigt, so dass es ihn regelrecht gepackt hat, und jetzt ist er mit ganz grossem Eifer selber unter die Bigfoot-Forscher gegangen. Wahrscheinlich ist er ein alleinstehender Rentner. Das Alter könnte passen, und an seinen Händen sehe ich weder einen Ring noch einen Ringabdruck. Zuerst erklärt er mir ausführlich seine neuesten Gipsabdrücke, die er von den Spuren von Bigfoot genommen hat. Leider kann ich an diesen Abdrücken überhaupt keine Spuren erkennen. Ich bin aber auch sonst etwas skeptisch, weil ich die Sache mit den Gipsabdrücken auch ganz anders gelernt habe. Was ich weiss giesst man zuerst Gipsmasse in die gefundene Spur und lässt sie dann aushärten. Die schmutzige Seite dieses Gipsabdrucks hat dann die Form des Originals des Fusses, der Tierpfote oder was auch immer die Spur hinterlassen hat. Dann putzt man das so entstandene Positiv und macht davon einen zweiten Abguss. So entsteht ein Negativ des Fusses oder der Pfote, und dieses Negativ sollte dann genau der Spur entsprechen, die man gefunden hat. Mein Nachbar hat aber einfach Gipsmasse in eine Spur gegossen und diesen Abdruck nach dem Aushärten mitgenommen. Und jetzt deutet er irgendwelche Strukturen auf der sauberen Oberfläche des Gipsabdruckes. Was soll es denn da zu sehen geben?

Dann erklärt mir mein Nachbar das komplizierte Verhalten von Bigfoot . Bigfoot hat offenbar Freude an Geschenken, und wenn er ein Geschenk bekommt, dann schenkt er auch etwas zurück. Mein Nachbar hat ihm einmal Äpfel mitgebracht und diese auf einem Baumstrunk aufgeschichtet. Als er später zurückgekommen ist hat ihm Bigfoot zwei der Äpfel hübsch drapiert dagelassen. Ein anderes Mal hat Bigfoot alle Äpfel mitgenommen und ihm dafür einen Ast dagelassen. Mein Nachbar hat den Ast bei sich und zeigt ihn mir. Tja, tatsächlich, stelle ich fest, das ist wirklich ein Ast. Mein Nachbar sieht meine Ratlosigkeit, lächelt und erklärtmir etwas gönnerhaft, dass er auch nicht wisse, wozu dieser Ast gut sein soll. Aber es sei halt einfach ein Geschenk von Bigfoot. Schon öfter ist es ihm offenbar passiert, dass er gemerkt hat, dass Bigfoot in der Nähe ist, und dann ist er jedes Mal so schnell wie möglich weggegangen. Er sei doch nicht so blöd, dass er es darauf ankommen lassen würde, Bigfoot zu begegnen, das sei doch viel zu gefährlich. Es ist eine etwas seltsame, aber auf jeden Fall spannende Viertelstunde, die ich da bei meinem Nachbarn und seinen Bigfoot-Stories verbringe, bis ich mich schliesslich verabschiede.
Die Begegnung mit dem Bigfoot-Forscher beschäftigt mich noch eine Weile. Da wird ein ursprünglich Uninteressierter und Unbeteiligter zum eifrigen Bigfoot-Forscher, tut aber alles, damit er Bigfoot ja nie zu Gesicht zu bekommt. In der christlichen Religion ist auch ein Unbeteiligter zu einem Eifrigen geworden. Saulus hat sich zu Paulus gewandelt und ist dann einer der prägendsten Theologen des Christentums geworden. Im Gegensatz zu Paulus wird mein Nachbar wahrscheinlich keine ähnlich grosse Karriere in der Bigfoot-Religion erleben. Aber er hat etwas gefunden, dem er von ganzem Herzen nachgehen kann, ein Rätsel, dessen Wert nicht in der Auflösung, sondern im Raten besteht. Was mir mein Zimmernachbar über Bigfoot erzählt hat klingt für mich wirklichkeitsfremd und unüberlegt. Aber wer weiss, vielleicht tut er im Grunde genommen etwas Ähnliches wie das, was ich letztlich auch tue. Er hat sich wahrscheinlich gar nicht der Erforschung von Bigfoot verschrieben, sondern er liebt es, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Und ich, ich kann meine grossen Fragen auch nicht beantworten, und irgendwann einmal werde ich vielleicht auch lernen, es zu lieben, wenn ich mich mit ihnen beschäftige.

Klamath River 1

Klamath River 2

Klamath River 3

Meine Fahrt heute wird mit einem Abstecher nach Norden beginnen, mit einer kurzen Fahrt nach Oregon. Dann werde ich wieder zurück in Richtung Süden fahren und heute Abend in Redding übernachten.
Zunächst aber führt mich meine Reise weiter dem Klamath River entlang. Im Morgenlicht sieht der Fluss ganz anders aus als im Abendlicht von gestern. Mehr als 60 Meilen folge ich dem Klamath River und erwarte, dass er immer enger und kleiner wird, weil der Ursprung des Flusses ja immer näher kommen sollte. Der Klamath River sieht das aber ganz anders. Er wird mal enger, dann wieder ganz weit, verbreitet sich sogar in einer grossen Ebene, wird dann wieder schmaler und mutiert zu einem Wiesenfluss. Es ist jedenfalls ganz anders, als ich mir das vorgestellt habe. Dann verlasse ich den Klamath River und fahre auf der Route 5 nach Norden, nach Oregon. Dort hat man im letzten Jahr offenbar auch das Geschäft mit den Gewürzen entdeckt. Weil meine Gewürzplätzchen alle sind will ich mich da neu eindecken. Mein Abstecher nach Norden endet aber mit einer Enttäuschung: In Oregon wird nur Grünzeug freihändig verkauft. Wenn man verarbeitete Produkte wie Biskuits oder Süssigkeiten kaufen will braucht man dazu einen entsprechenden Ausweis und einen Wohnsitz in Oregon. Mit Grünzeug kann ich leider nichts anfangen. Schliesslich habe ich weder eine Küche noch einen Backofen dabei. Unverrichteter Dinge und etwas enttäuscht mache ich mich wieder auf nach Süden.

Schneeberge gegen Oregon

Emigrant Lake

Felsformation

Die Route 5 ist zwar eine Autobahn. Sie führt aber durch eine tolle Gegend, zuerst dem Emigrant Lake antlang, dann durch grosse Bergkessel und schliesslich an hohen, schneebedeckten Bergen und spannenden Felsformationen vorbei.

Berge gegen Trinity River

Schneeberge gegen Trinity River

In Yreka verlasse ich den Highway 5 und biege auf die State Route 3 ab. Auf meiner Motorradkarte ist diese Strecke von Yreka nach Redding als besonders reizvolle Strecke gekennzeichnet. Auch die topografische Karte lässt vermuten, dass es sich lohnt, hier durchzufahren. Aber leider ist es nicht so. Die Strasse führt zwar zuerst durch bergige Regionen und durch ansprechende Landschaften, aber mit dem dichten Wald links und rechts und dem letztlich etwas lustlosen Streckenverlauf wird sie bald einmal ziemlich langweilig, und so bleibt es auch bis Redding. Da hilft es nichts, dass der Trinity River wieder als treuer Begleiter nebenher fliesst, und auch die Passagen am Trinity Lake und am Whiskeytown Lake ändern nichts daran. Nur einmal gibt es noch eine kleine Aufregung: Ein Teil der Strasse kurz vor Redding wird neu gebaut und ist gesperrt. Der Verkehr wird für etwa zehn Meilen über einen einspurigen Waldweg geführt. Für die Einheimischen hier mit ihren Trucks, Pickups und SUVs ist das keine Sache. Aber die feuchten und steilen Dreckpisten hier sind für Olga und für mich eine ziemliche Herausforderung. Schliesslich bin ich froh, dass ich wieder ganz normal auf Teer weiterfahren kann.
Etwas müde und auch etwas enttäuscht komme ich in Redding an. Das war heute so wie ein grosses Feilschen um kleine Perlen, ein langfädiges Getuckere durch nette Landschaften, ohne dass es richtig spannend oder lustig geworden ist.

Lake Trinity

Whiskeytown Lake

Kurz vor 17.00 Uhr komme ich im Motel an und habe genügend Zeit, um etwas auszuspannen und mich fit für das Abendessen zu machen. Heute möchte ich gerne wieder einmal in einem Restaurant zu Abend essen. Weil ich nicht mehr allzu weit laufen mag gehe ich zur Pizzeria, die gleich hier um die Ecke ist. Die nette Bedienung merkt sofort, dass ich nicht von hier bin, sicher wegen meinem Akzent, vor allem aber deshalb, weil ich frage, wie gross denn die kleinste Pizza sei und diese dann auch noch bestelle. „Oh, you are from Switzerland? So what brings you to Redding?“fragt sie. Es dauert einen Moment, bis ich verstehe, was sie meint. Sie überrascht mich, denn das hat mich bisher noch niemand gefragt. Andererseits, wenn ich jemanden aus Kalifornien in Olten treffen würde, dann würde ich wahrscheinlich genau das auch als Erstes fragen.

Reiseroute am Montag, 11. April 2016

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