Boise – Tag 2

Heute bin ich richtig lange liegen geblieben. Nach der langen Autobahnfahrt gestern habe ich mir das einfach gegönnt. Um 09.30 bin ich dann hoch, damit ich überhaupt noch ein Frühstück kriege. Ich habe mich so gefreut, und dann gibt es nur die üblichen Flocken und süsses Gebäck.

Zuerst muss ich mich um meinen Haushalt kümmern. Das ist nicht einfach bei einer mobilen Einrichtung. Die Wäsche habe ich ja gottseidank schon am Vortag gewaschen. Aber ich muss in meinem Transportpuff wieder einmal etwas Ordnung machen, mich im Zimmer für die zwei Tage einrichten, das Log nachführen, kurz, alles unglaublich wichtige und dringende Sachen, die – wie zu Hause – einfach immer sein müssen.
Gegen Mittag gehe ich joggen. Boise ist eine Stadt mit sehr vielen Grünflächen. Ein paar hundert Meter von meinem Hotel entfernt ist der Anne Morrison Memorial Park, ein riesiger Park. Für eine Runde joggen rund um den Park brauche ich fast 20 Minuten. Im Park hat es viele Wasseranlagen, welche von Gänsen bewohnt werden. Die Gänse haben gerade Junge, vielleicht ein bis zwei Wochen alt. Es ist spannend zuzuschauen, wie die Eltern ihren Jungen beibringen, wie man im Park über die Strasse geht. Die Elterngänse beugen dabei den Hals zu ihren Jungen hinunter und müssen gleichzeitig nach vorne schauen und nach vorne zeigen. Das gibt so eine Art Siphon-Haltung, wie wir Menschen sie auch einnehmen, wenn wenn wir uns um kleine Kinder kümmern. Dass Amerikaner und Europäer am Ende gar nicht so verschieden sind, das habe ich ja schon mehr festgestellt. Dass aber auch Menschen und Gänse sich gar nicht so sehr unterscheiden, wenn es um die Betreuung der Jungen geht, das hatte ich so noch nicht mitbekommen.
Ausser den Gänsen hat es im Park unglaublich viele Eichhörnchen. Ich hätte nie geglaubt, dass ich in einem Tagebucheintrag je einmal darüber schreiben würde, dass ich Gänse und Eichhörnchen gesehen habe. Aber so wie mir das Verhalten der Gänse aufgefallen ist, so ist es auch bei den Eichhörnchen. Diese Tiere sind dermassen neugierig und zutraulich, dass sie die Menschen fast auf Schrittweite an sich heranlassen. Eichhörnchen bei uns sind doch unglaublich schüchtern. Das kennen die amerikanischen Squirrels überhaupt nicht.

Am Nachmittag plane ich für die nächsten paar Tage. Ich bin zwar nach Boise gefahren statt wie eigentlich geplant nach Missoula, und das vor allem wegen dem Wetter, das in Missoula schlechter und kälter als hier in Boise war. Das ändert aber nichts an den beiden darauf folgenden Etappenzielen. Am Sonntag fahre ich in den Norden nach Lewiston, am Montag wieder in den Süden nach Baker City. Die Strecken sollen landschaftlich und fahrerisch recht schön sein. Nach den vielen Stunden Autobahn von gestern bin ich da gespannt.
Für die restlichen Tage in den Nordweststaaten der USA ändere ich meine Planung so, wie ich es mir schon im Yellowstone Park ausgedacht habe. Ich werde die Nordstaaten nicht weiter nach Nationalparks oder Sehenswürdigkeiten abgrasen. Ich habe nichts davon, vor allem darum, weil hier im Norden einige der touristischen kleineren Strassen immer noch gesperrt sind, und die Recherche nach den Strassenzuständen unglaublich aufwändig ist und letztlich nur unsichere Ergebnisse ergibt. Stattdessen werde ich nach den beiden Landschaftstagen drei Städtestationen machen und je zwei Nächte in Portland, Seattle und in Vancouver bleiben. Über Portland und Seattle habe ich gelesen, dass sie sehr innovative Städte mit einem inspirierenden Geist seien. Es nimmt mich wunder, ob ich davon bei einem Kurzaufenthalt etwas mitbekomme. Vancouver nimmt mich als Stadt grundsätzlich wunder. In allen drei Städten habe ich jeweils nur einen ganzen Tag Zeit. Das ist zwar nicht viel, aber es ist der Kompromiss zwischen Motorradfahren und Sightseeing, den ich einzugehen bereit bin. Die nächsten acht Tage sind damit geplant und gebucht. Während der ganzen nächsten Woche muss ich nicht mehr Strecken suchen, Hotels buchen oder Fahrzettel schreiben.
Tja, und dann wird es schnell gehen. Schon in einem Monat, Anfangs Juni, bin ich dann in Anchorage und damit am Ziel. Vor zehn Tagen habe ich mir zum ersten Mal länger darüber Gedanken gemacht, wie das sein wird. Wenn ich mit Olga in Anchorage ankomme, dann ist das Reiseziel erreicht. Es ist, wie wenn ich meine Flagge in den Boden rammen und mich als Erstbesteiger fühlen würde. Wenn  mein Ziel nur darin bestehen würde, nach Anchorage zu fahren oder dort zu sein, dann hätte ich das schneller, einfacher und billiger haben können. Ich habe ein anderes Ziel: Ich will drei Monate auf dem Motorrad durch den Westen von Süden nach Norden fahren – bis nach Anchorage in Alaska. Wenn ich in Anchorage bin habe ich meinen Traum wahrgemacht, und damit ist der Traum dann auch vorbei. Es wird es nicht mehr geben, dass ich mit einem verklärten Lächeln und sehnsüchtigen Augen sage: „Weißt du, irgendeinmal fliege ich in den Südwesten der USA, und dann ...“. Gut, vielleicht gibt es da Leute in meinem Umfeld, die gar nicht traurig sein werden, dass sie sich das nicht mehr anhören müssen. Aber es gibt sicher bald neue Träume...

Boise 1

Boise 2

Boise 3

Am Abend gehe ich noch einmal raus, um mich in Boise in meiner Umgebung umzusehen. Ich fühle mich wohl in dieser Stadt. Boise hat knapp über 200'000 Einwohner und ist damit etwas halb so gross wie Zürich und nur wenig grösser als Genf. Der Slogan der Stadt ist „The City Of Trees“. Es gibt tatsächlich sehr viele Bäume hier. Es werden offenbar auch laufend neue Bäume gepflanzt. Überhaupt fällt mir auf, wie viele Grünflächen es hier gibt.
Städtebaulich weiss ich nicht so recht, was ich zu Boise sagen soll. Schliesslich sucht niemand in den USA eine Zuckerbäckerstadt wie Heidelberg oder etwas eindrücklich Romanisches wie in Italien oder Frankreich. Es ist also mehr die Frage, wie diese amerikanische Stadt mit ihrer Mischung aus modernen Geschäftshochhäusern und klassischen älteren amerikanischen Bauten wirkt. Auf mich wirkt sie grundsätzlich sympathisch, lebendig und passend.

Ländliches Boise

Capitol von Idaho

Steunenberg-Denkmal vor dem Idaho Capitol

Boise ist die Hauptstadt des Bundesstaates Idaho. Die Fläche von Idaho ist vier Mal grösser als die der Schweiz, während die Bevölkerung aber nur einen Fünftel der Schweiz beträgt. Wie die Schweiz ist Idaho ein Landwirtschaftsstaat, das ist auch in der Stadt Boise sichtbar. In der Verlängerung der Main Street sieht man schon das Hügelland der Umgebung.

Auf der Zufahrt zum Regierungsgebäude stehen in ein paar hundert Metern Abstand zwei Statuen. Zuerst die von Abraham Lincoln, der sich offenbar für den Staat Idaho eingesetzt hat. Etwas näher beim Regierungsgebäude steht die Statue von Frank Steunenberg, der von 1897 bis 1901 Gouverneur von Idaho war. Auf der Inschrift bei der Statue heisst es, dass Steunenberg Recht und Ordnung in Idaho wiederhergestellt habe. Andere Quellen sehen das etwas anders. Offenbar hat sich Frank Steunenberb einen Namen als Hardliner gemacht, als er streikende Bergarbeiter quasi an die Wand gefahren hat. Lincoln und Steunenberg haben etwas gemeinsam: Sie sind beide erschossen worden. Wie soll man das nun verstehen, dass ein grosser Denker und mutiger Politiker wie Abraham Lincoln auf derselben Chaussee wie ein erzkonservativer, reaktionärer Law and Order Politiker wie Steunenberg ein Denkmal erhalten hat? Und was bedeutet es, dass das Denkmal für Steunenberg noch etwas näher beim Kapitol von Idaho steht als das Denkmal für Lincoln? Idaho ist einer der wirtschaftlich schwächeren (Rang 41) und konservativsten Staaten der USA. Steunenberg steht für Idaho. Es ehrt das Andenken an Abraham Lincoln, dass er nicht so nahe beim Kapitol in Boise steht wie Frank Steunenberg. Steunenberg hat Idaho am Ende gar nicht weitergebracht. Gehören Konservativismus und wirtschaftliche Stagnation einfach zusammen? Führt Konservativismus in die Stagnation oder macht Konservativismus, dass auch die Stagnation bleibt? Hanns Martin Schleyer, deutscher Arbeitgeberpräsident bis 1977, hatte in den Sechzigerjahren gegenüber streikenden Arbeitern eine ähnlich rechtswidrige und unmenschliche Haltung wie Frank Steunenberg vertreten. Das hat auch niemandem etwas gebracht. Es hat weder die betroffenen Arbeiter, noch die deutsche Gesellschaft, noch die Arbeitgeberschaft, die Schleyer ja vertreten hatte, weitergebracht. Schleyer wurde 1977 von der RAF entführt.Auch Schleyer wurde erschossen. Lincoln, Steunenberg, Schleyer, Moro, Rabin, es trifft ja nicht einfach die Guten oder die Schlechten. Aber offenbar ist die menschliche Spezies so konstruiert, dass sie ab einem bestimmten Pegel des Unverstandenseins nur noch mit Töten reagieren kann. Mit den schwierigen und komplizierten Phänomenen des Mensch-Seins, wie man sie im Buch Hiob oder bei Michael Kohlhaas findet, kennen wir uns offenbar nur ungenügend aus.

Brunnen vor der Boise Town Hall

Windrädchen zum Schutz vor Kindesmissbrauch

Was ich von Stadt Boise und von Idaho als Land gesehen habe mag ich zwar sehr. Trotzdem kann und will ich mich nicht dagegen wehren, Zorn, Unverständnis und letztlich auch Belustigung zu empfinden. Da gibt der Staat Idaho doch tatsächlich Geld dafür aus und ist sich nicht zu blöd dafür, gegen den Missbrauch von Kindern zu demonstrieren, indem er in einer der hintersten Ecken des Parks vor dem Kapitol ein paar beschissene Windrädchen und Plakate in den Boden stecken lässt. Was wird das bewirken und wen wird das interessieren? Der Brunnen vor der Town Hall von Boise, also quasi vor dem hiesigen Stadthaus, erinnert mich ganz an den Brunnen, den die Stadt Olten vor einiger Zeit in der Fussgängerzone aufgestellt hat: Nichtssagend und teuer. Allerdings gibt es einen kleinen, aber wichtigen Unterschied: Bei dem Brunnen vor der Town Hall in Boise bekommt man mindestens etwas zu sehen, und man kann sich dazu auch hinsetzen.

Abendstimmung in Boise

Die Abendstimmung auf dem Heimweg in mein Hotel stimmt mich etwas versöhnlicher. Ich bin gar nicht sicher, ob es zu irgendetwas führt, wenn man sich ab und zu einmal gepflegt aufregt. Aber ich kann mich so schlecht dagegen wehren, mir passiert das einfach manchmal. Und wie schon Papst Gregor der Grosse gesagt hat: Die Vernunft kann sich dem Bösen mit grösserer Wucht entgegenstellen, wenn ihr der Zorn dienstbar zur Hand geht.

Kommentare

  • Jeanette Samstag, 14. Mai 2016 Antworten

    und hör ja nicht auf zu philosophieren und dich dabei aufzuregen,
    es ist ein Wochenend-Morgen-Highlight, bei einem Kaffee deine Berichte zu lesen,
    einfach gross

  • Martin Bünger Sonntag, 15. Mai 2016 Antworten

    Danke, Friend!
    Ich komme mir dabei immer etwas zweifelhaft vor.
    Aber schon Mani Matter hat diese Ambivalenz ganz treffend beschrieben:
    “Die Hunde bellen, die Karawane schreitet weiter. Vielleicht ist es besser, zu den Hunden gehört zu haben. Die haben wenigstens noch gebellt.”

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