Calgary – Jasper

Ich ziehe die Vorhänge in meinem Zimmer auf und sehe, dass es regnet. So fängt ein guter Tag eigentlich nicht an. Ich wusste ja von der Wettervorhersage, dass heute in Calgary schlechtes Wetter ist. Aber muss es deshalb gleich regnen? Irgendwie scheint der Wettergott meine Gedanken lesen zu können. Es hört nämlich auf zu regnen. Das dauert aber nur kurze Zeit, und dann beginnt es zu schneien. Es ist, wie wenn der Wettergott mich dafür strafen will, dass ich mich über das schlechte Wetter ärgere. Dabei habe ich ja gar nichts gesagt. Sind wir jetzt sogar schon beim Wetter so weit, dass man nicht einmal mehr für sich etwas denken darf? Ist der Wettergott etwa einer von dieser grossen Schweizer Partei oder von der AfD?
All das stille Vor-mich-hin-Zetern hilft gar nichts, und ich mache mich langsam ans Packen und Laden. Zwischen zweimal Laufen überlege ich mir kurz, ob ich mich nicht doch noch für eine Viertelstunde in den Whirlpool des Hotels legen soll. Aber das würde die Abfahrt bei schlechtem Wetter nur hinauszögern, und ausserdem müsste ich dann auch noch eine nasse Badehose einpacken, und das will ich wirklich nicht.
Schliesslich hat die Welt dann doch noch ein wenig Erbarmen mit mir. In diesem Hotel gibt es nämlich ein ganz tolles Frühstücksbuffet mit warmen Speisen. Darauf hatte ich gestern bei der Hotelsuche gar nicht geachtet. Aber jetzt, bei dem üblen Wetter und der Aussicht auf eine kalte und nasse Fahrt, setze ich mich nach dem Packen und Laden gerne noch einmal hin. In aller Gemütlichkeit geniesse ich es, etwas Gutes und Warmes in den Bauch zu kriegen. Und danach bin ich mit meiner Situation auch wieder einverstanden. Es regnet halt. Was soll’s? Dann ziehe ich eben wieder das Regenkombi an.

Als ich anfangs Jahr bei den Reisevorbereitungen Informationen zu Kanada gesucht habe bin ich auf einen Dokumentarfilm gestossen, der ein paar unbekannte und kleine Destinationen in Alberta porträtiert hatte. In diesem Film hat es auch einen Beitrag über die Mount Engadine Lodge bei Calgary gegeben. Die etwas abseits gelegene Lodge liegt im Kananaskis Park, südlich von der Strecke Canmore – Calgary, und sie wird offenbar als Geheimtipp gehandelt. Beim meiner Anfahrt gestern sind mir die Hinweisschilder zum Kananaskis-Park aufgefallen. Heute Morgen habe ich nachgeschaut, ob es in der Lodge für die nächste Nacht noch freie Zimmer gibt. Freie Zimmer würde es da schon noch geben, aber sie kosten 300-500 Dollar pro Nacht, und das ist nun wirklich nicht meine Kragenweite. Darum ist mein Ziel heute nicht die Mount Engadine Lodge, sondern das Glacier View Inn. Das ist zwar auch ein Berghotel, aber es liegt viel weiter nördlich im Park von Jasper, direkt zwischen dem Columbia- und dem Athabasca-Gletscher. Rund fünf Stunden dauert die Fahrzeit bis dorthin. Wenn ich jetzt dann gegen zehn Uhr losfahre und Pausen, Tanken und Fotohalte mit einrechne, dann werde ich so gegen 17.00 Uhr dort ankommen. Es wird es dann zwar schon ziemlich kalt sein, aber es sollte immer noch reichen, um bei Tageslicht und bei Temperaturen über dem Gefrierpunkt anzukommen.

Die 200 km von Calgary bis Lake Louise kenne ich schon von der Hinfahrt von vorgestern. Deshalb fahre ich heute nicht über den Highway, sondern nehme die Hauptstrasse, die etwas nördlich des Highways verläuft. Auf dieser Strasse wird auch nicht so schnell gefahren wie auf dem Highway, und das ist bei diesem Wetter ein grosser Vorteil. Es regnet und schneit zwar immer ein bisschen und es ist auch kalt, aber die Niederschlagsmenge bleibt verkraftbar, und die Temperaturen nähern sich dem Gefrierpunkt nie. Ich bin froh, dass ich mich heute nicht vor Minustemperaturen bei nassen Strassen fürchten muss. Das macht mich sicher und ruhig. Auch Olga läuft nach dem grossen Service zuverlässig und ruhig. Durch die neuen Pneus entstehen zwar etwas mehr Vibrationen. Das ist aber auch kein Wunder. Schliesslich besteht das Profil der Pneus aus Würfeln von etwa einem Zentimeter Kantenlänge.
Der Regen macht, dass sich wieder etwas grüne Farbe in das Graugelb der Steppe hier mischt. In Verbindung mit der grauweissen Luft entstehen so Bilder, die zwar eine etwas kühle aber dennoch sympathische Atmosphäre ausstrahlen. Überhaupt stelle ich fest, dass die Landschaft hier bei diesem Wetter bestens zum Tragen kommt. Der graugrünweisse Bow River wirkt stimmig in der grauen Luft.

Der Glanz des Lake Herbert ist viel geheimnisvoller, wenn sich die dunkelgrünen Tannen und die silbrige Luft darin spiegeln. Auch wenn ich mich heute Morgen überwinden musste, und auch wenn ich wirklich lieber bei warmem Wetter und Sonnenschein unterwegs bin, gefällt es mir eigentlich ganz gut auf meiner Tour heute. Wenn ich es mir recht überlege, so war meine Stimmung vorgestern tief beglückend, während sie heute leise zufrieden ist. Also kein Deutschfreiburger Mundartfolkpop heute, sondern die leise Gitarre von Pat Metheny.

In Lake Louise – wieder am selben Ort wie vorgestern - tanke ich und mache Mittagsrast. Der Regen und der Schnee haben soweit nachgelassen, dass es das Regenkombi nicht mehr braucht. Fahren mit Kombi schränkt halt immer etwas ein. Darum nehme gerne einmal etwas leichten Regen oder Schnee in Kauf und fühle mich dadurch beim Fahren zwar etwas feuchter aber auch etwas freier.

Die Fahrt geht durch den Banff National Park und den Jasper National Park bis hin zu der Stelle in den Bergen, wo der Athabasca und der Columbia Gletscher liegen. Dort steht das Glacier View Inn Berghotel. Es liegt ziemlich genau in der Mitte zwischen Calgary und Prince George. Darum mache ich da heute Station. Wie geplant komme ich gegen 17.00 Uhr an. Es ist bereits richtig kalt. Gut, dass ich rasch an die Wärme komme.
Zum Hotel gehört ein Restaurant mit einer sehr feinen Küche und einer sehr freundlichen Bedienung. Der junge Mann kennt seine Karte bestens und empfiehlt mir ein Menu mit dem dazu passenden Wein. Eine so freundliche, ausführliche und kompetente Beratung habe ich hier in Nordamerika noch kaum erlebt. Zwischen der Bestellung und dem Service kommt der Kellner immer wieder an meinen Tisch. Er erzählt, dass er während der Fussball-WM 2006 in Deutschland gewesen ist und eine mehrwöchige Europareise angehängt hat. Diesen Sommer will er wieder nach Europa, entweder in die Schweiz oder in die Türkei. Ich höre ihm gerne zu und wünsche ihm eine schöne Urlaubsreise im Sommer. Zu seinen beiden Wunschdestinationen sage ich nichts. Egal wie er sich dann entscheiden wird, aber von Europa wird er jedenfalls nicht sehr viel sehen, wenn er die Schweiz oder die Türkei besucht. Als ich mich von ihm verabschieden will lässt er mich kurz warten, geht nach hinten und kommt dann mit einem Glückskeks, den er mir feierlich und mit einer kleinen Verbeugung überreicht. Im Zimmer öffne ich den Keks und finde auf dem Glückszettel den folgenden Spruch:

Ich bin ganz gerührt ob der Geste des freundlichen Kellners und auch ein bisschen wegen dem schönen Spruch. Ich habe ja sonst wenig mit Horoskopen und Wahrsagereien am Hut, aber dieser Spruch bringt bei mir eine Saite zum Klingen, die mich berührt und hoffnungsvoll stimmt. Ich habe überhaupt nichts dagegen, reich zu werden, aber eigentlich wäre ich schon ganz zufrieden, wenn ich im Sommer wieder einen Job hätte, der mir ein normales geregeltes Einkommen verschaffen würde.

Reiseroute am Donnerstag, 12. Mai 2016

Kommentare

  • Ändu Mittwoch, 18. Mai 2016 Antworten

    Hoi Tinu
    Ich habe wieder Mal gschnöiget in deinen Aufzeichnungen; du solltest ein Buch heraus geben; das ist ja sehr amüsant zu lesen! Ich wünsche dir eine gute Weiterreise!
    PS: heute war ich in Olten; recht schönes Wetter, aber der Himmel gedeckt sich schon wieder und Morgen wird es 9° warm.. Mach’s guet
    Liebe Grüsse
    ändu

    • Martin Bünger Dienstag, 24. Mai 2016 Antworten

      Tschou Ändu
      Ich habe schon so oft ein Buch herausgegeben und es dann nicht wieder zurückbekommen, ich weiss nicht, ob ich es noch einmal machen soll 😉

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