Delta Junction – Anchorage

Letzte Nacht habe ich kaum geschlafen. Das ist auch nicht weiter verwunderlich. Beim Wachliegen ist mir klargeworden, dass ich bis am Montagabend aus den USA ausreisen werde. Ich fürchte mich nicht vor der drohenden zehnjährigen Einreisesperre. Aber bei einem Overstay würde ich bei der Ausreise grosse Schwierigkeiten bekommen. Die brauche ich im Moment wirklich nicht. Aber das grosse Ziel meiner Reise ist Anchorage. Dort will ich unbedingt hin, sonst ist meine ganze Reise nicht vollständig. Die geplante Fahrt über Fairbanks und den Denali National Park muss ich aber fallen lassen. Dafür reicht die verbleibende Zeit einfach nicht. Stattdessen werde ich von Delta Junction aus direkt nach Süden fahren. Nach einer längeren Fahrt werde ich heute Abend in Anchorage angekommen. Dann habe ich mein Ziel erreicht. Morgen werde ich dann wieder zurück über die Alcan-Grenze nach Beaver Creek in Kanada fahren. Dort werde ich mir dann überlegen, wie es weitergehen soll. Jetzt will ich einfach so schnell wie möglich nach Anchorage und dann wieder raus aus den USA.

Beim Einkaufen und Tanken in Delta Junction ist es wieder so wie gestern Abend. Die Leute hier sind so unfreundlich und abweisend. Seltsam, das habe ich auf dieser Reise noch nie so erlebt. Schliesslich fahre ich los. Bei der grossen Kreuzung nehme ich die Strasse, die schnurgerade nach Süden führt.

Schon bald fahre ich durch eine sehr abwechslungsreiche und interessante Landschaft. Der Teil von Alaska, den ich hier kennenlerne, hat etwas Wildes, Herbes und gleichzeitig Faszinierendes. Karge rotbraune Vegetation wechselt sich ab mit grüner, saftiger Buschlandschaft, hügelig-bergige Passagen mit teils kurzen, teils sehr weiten Ebenen, sumpfige Flächen mit sprudelnden Bächen, weiten Kiesbetten und hell glänzenden Seen. Hier gibt es immer etwas spannend Neues zu sehen. Auch die Motorradfahrerseele kommt hier auf ihre Kosten. Nach dem „Top oft he World“ – Highway gestern ist das hier wieder eine Route die sehr schön zu fahren ist, auch wenn die Strasse manchmal etwas arg gewellt ist. Noch bis vor ein par Tagen war ich der Meinung, dass Schlaglöcher und Schotterpisten die grossen Herausforderungen auf den Strassen des Nordens hier wären. Mit den Schotterpisten habe ich mich gestern definitiv ausgesöhnt. Heute merke ich mehrfach, wie gefährlich die wellenartigen, quer verlaufenden Verwerfungen der Strassen hier sind, zum einen, weil sie nur schwer erkennbar sind, zum anderen, weil sie auch für ein gut ausgerüstetes Motorrad wie Olga leicht zum brutalen Trampolin werden können. Auch mit gedrosseltem Tempo verlangen die kritischen Abschnitten hier hohe Aufmerksamkeit. Die permanente Suche nach möglichen Wellen im hellgrauen Belag in der hellen Nordsonne strengt an und braucht viel Kraft.

An einem der ersten Aussichtspunkte heisst es, dass man hier von oben in die Ebene hinabsehen und den Zug der Bisonherden beobachten könne. Das klingt spannend. So sehr ich mich aber auch umschaue, sehe ich hier aber nirgendwo Bisons. Doch an einem Punkt unten in der Ebene scheint sich etwas Braunes zu bewegen, ist aber von blossem Auge nicht genau erkennbar. Ich mache ein Bild und Vergrössere den entsprechenden Punkt. Es ist ein einsamer Elch, der da unten im Busch herumstreift, also nicht wirklich eine Bisonherde, aber trotzdem etwas durchaus Sehenswertes.
Nach dem Mittag erreiche ich Glenallen. Hier kreuzen sich die Ost-West und die Nord-Süd-Routen, und hier biege ich ab nach Westen, auf die Strasse, die direkt nach Anchorage führt. Die Strasse hier ist in besserem Zustand. Allerdings gibt es hier auch mehr Verkehr, vor allem mehr Lastwagen und Camper.

Weil die Fahrt jetzt etwas ruhiger wird habe ich etwas Zeit, mir noch Gedanken über allfällige Optionen zu meiner Reiseplanung zu machen. Morgen Montag sind die meisten Geschäfte in den USA geschlossen, weil Memorial Day ist. Ich werde also morgen kaum in Anchorage einen Käufer für Olga finden. Bei dem Motorradvermieter, der mir von Graham empfohlen wurde, werde ich morgen Vormittag trotzdem vorbeischauen. Vielleicht ist ja trotz Memorial Day jemand da. Einem Glücksfall will ich keinesfalls im Wege stehen, und sollte der eintreten, dann würde ich morgen Nachmittag entweder nach Vancouver oder nach Los Angeles, und von dort nach Hause fliegen. Darum halte ich zwischen Glenallen und Anchorage einmal kurz an, schreibe dem Motorradvermieter ein Mail und biete ihm Olga zum Kauf an.
Vor zweieinhalb Monaten habe ich in Arizona eine Datenkarte für mein iPad gekauft. Weil ich damals zwei Stunden gebraucht habe, bis das richtig Ding funktioniert hat, musste ich bei Dunkelheit und Kälte noch drei Stunden fahren, bis ich meine Unterkunft erreicht hatte. Rückblickend hat sich der Aufwand aber gelohnt. Ich war schon einige Male froh, dass ich diese Datenkarte bei mir hatte und irgendwo unterwegs in den USA aufs Internet zugreifen konnte. So auch heute.

Etwa eine Stunde nach der Abzweigung in Glenallen führt die Strasse in die Berge. Ich fahre ziemlich weit oben dem Nordhang des Matanuska Rivers entlang und erlebe ein eindrückliches landschaftliches Schauspiel. Der Höhepunkt ist der riesige Gletscher, der sich fast bis ins Tal hinabwälzt. Kurz vor Palmer beginnt dann die grosse Ebene des Knik Rivers, die von einem See, dem Knik Arm dominiert wird. Der Verkehr nimmt stark zu. Hier beginnt offenbar bereits das Einzugsgebiet von Anchorage, und so wie es ausschaut wollen Heerscharen von Tagesausflüglern wieder heim nach Anchorage.

Es ist bereits gegen 19.00 Uhr, als ich endlich in Anchorage ankomme, in Anchorage, dem geografischen Ziel meiner Fahrt. Jetzt wäre eigentlich der Moment gekommen, wo ich bildlich gesprochen meine Erobererflagge in den Boden rammen und mich stolz als erfolgreicher Forschungsreisender ablichten lassen würde. Als idealen Ort für dieses Bild hatte ich mir die erste Ortstafel bei meiner Ankunft vorgestellt. Bedauerlicherweise kommt es nicht zu diesem Triumphbild, weil ich hier ganz einfach nirgendwo eine Ortstafel finden kann. Auf der Suche nach einer würdigen Alternative lande ich schliesslich beim Museum von Anchorage. Da findet sich auch eine freundliche Dame, die bereit ist, mich vor dem Schriftzug „Anchorage“ zu fotografieren. Bei der späteren Betrachtung des entsprechenden Bildes muss ich dann allerdings zugeben, dass man mir die lange Fahrt von Delta Junction nach Anchorage gut ansieht. Erfolgreiche Forschungsreisende habe ich mir eigentlich etwas anders vorgestellt. Aber ich bin gesund und ohne nennenswerte Zwischenfälle angekommen, und damit bin ich sehr zufrieden.

Meine Gastgeberin heute Abend ist Merri Lynn. Sie vermietet via Airbnb ein Zimmer ihrer Wohnung hier in Anchorage. Merri Lynn ist eine pensionierte Lehrerin, die vor ein paar Jahren von Kalifornien nach Anchorage gezogen ist. Ihr gefällt es hier besser als im sonnigen und warmen Süden. Obwohl sie pensioniert ist arbeitet sie jeden Tag als ad hoc Stellvertreterin in den Grundschulen von Anchorage. Sie kommt zum Einsatz, wenn die regulären Lehrkräfte einer Klasse Termine wahrnehmen müssen, z.B. für Besprechungen oder Amtsgänge. Als junge Frau hat sie während zwei Jahren an der UN Friedensmission in Sierra Leone teilgenommen, eine Erfahrung, die sie stark geprägt hat, wie sie erzählt. Ihre kleine Dreizimmerwohnung ist voll mit Büchern, Bildern und allen möglichen Sachen, darunter auch ihre Erinnerungsstücke aus Afrika. Merri Lynn ist eine sehr herzliche, belesene und gescheite Frau, die auf eine sympathische Art zu ihrem heimeligen Durcheinander steht. Heute Abend ist sie noch eingeladen, so dass ich ihre Wohnung die längste Zeit für mich habe. In der kurzen Zeit, die wir heute Abend gemeinsam verbringen, erlebe ich sie als liebenswerte und interessante Gastgeberin. Der Abend heute in Anchorage steht in einem angenehmen Kontrast zum gestrigen Abend in Delta Junction. Dementsprechend findet er auch ein früheres und ruhigeres Ende.

Reiseroute am Sonntag, 29. Mai 2016

Kommentare

  • Jeanette Donnerstag, 2. Juni 2016 Antworten

    oh, jetzt ist das schon vorbei…. danke für den tollen Blog… ich hoffe, die Reise hat dir viel Gutes geschenkt…. dann bis bald 🙂 🙂 🙂
    ich wünsche dir eine gute Heimreise, vielleicht bist du ja schon da….

    • Martin Bünger Donnerstag, 2. Juni 2016 Antworten

      Hi friend
      Danke und bis bald!
      Am Freitag Mittag bin ich wieder daheim.

  • Albert Schädli Sonntag, 19. Juni 2016 Antworten

    Hallo Martin
    Vielen Dank und Gratulation für die tollen Fotoreportagen. Habe sie mit viel Freude konsumiert. Du hast Dein Projekt nun hinter Dir, ich hoffe es kommt danach nicht nur Arbeit und tägliche Routine. Ich hoffe du fotografierst munter weiter, es hat ja gut geklappt. Ich für meinen Teil gehe ab nächsten März vermehrt diesem Hobby nach (Frühpension freiwillig). Ich hoffe wir finden mal Zeit einen Kaffee oder so zusammen zu trinken und ein wenig zu plaudern. Alles Gute und einen angenehmen Start ins Normalleben zurück.
    Liebe Grüsse
    Albert

    • Martin Bünger Dienstag, 12. Juli 2016 Antworten

      Hallo Albert
      Sorry, dass es so lange gedauert hat, bis ich Deinen Kommentar freigeschaltet habe.
      Vielen Dank für Dein Feedback. Das hat mich sehr gefreut.
      Ich melde mich gerne bei Dir, damit wir uns bei Gelegenheit treffen können.
      Herzliche Grüsse
      Martin

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